100 Wörter: Identitätsschwund

Nr. 18 –

Zur Erneuerung der Wasserleitungen an Leimgrubers alter Hütte hatte die ehemalige Kiesverwertungsgesellschaft an dessen Strasse ein Monstrum von einer Baumaschine abgestellt, das morgens früh schon beachtlich losbrummte und mittels einer raffinierten Rüsselkonstruktion die alten Rohre unter Leimgrubers Vorplatz wegsog. Leimgruber, der sich derartiger Hochtechnologie im Strassenbau keineswegs bewusst gewesen war, staunte nicht nur, er zitterte sogar, weil er fürchtete, es werde ihm mit seinen Abflussrohren auch der Rest seiner dahinschwindenden Identität als Alteingesessener abgesogen. Darum war er beruhigt, als am frühen Nachmittag ein mit einer Spitzhacke bewehrter Mann seine Kellermauer durchbrach und das Haus auf traditionelle Art zum Einsturz brachte.

Stephan Pörtner ist Krimiautor («Köbi der Held», «Stirb, schöner Engel») und lebt in Zürich. Für die WOZ schreibt er Geschichten, die aus exakt 100 Wörtern bestehen.

Mit Beat Schlatter präsentiert er derzeit «Literaturshow und Tanzmusik»: am 7. Mai im Tabourettli in Basel (Gast: Altbundesrat Samuel Schmid) sowie am 8. Mai 2013 im Kiff in Aarau.