Kommentar: Die Empörung ist zur permanenten Rebellion geworden

Nr. 19 –

Vor zwei Jahren machte die spanische Bewegung der Indignados erstmals auf sich aufmerksam. Mittlerweile haben sich die Protestformen erweitert.

Sie lassen einfach nicht locker. Schon zum dritten Mal versuchten LandarbeiterInnen und Mitglieder der andalusischen Arbeitergewerkschaft SAT am vergangenen Samstag, das Landgut Las Turquillas in der Nähe von Sevilla zu besetzen. Und wie schon vor einem Jahr und wieder vor wenigen Tagen, am 1. Mai, wurden sie vom Militär vertrieben. Doch sie würden wiederkommen, sagt die SAT, – «bis Las Turquillas in den Händen derer ist, die das grosse Gelände auch bewirtschaften». Dass dies tatsächlich geht, zeigt die Finca Somonte in der Nähe von Córdoba (siehe WOZ Nr. 22/12). Dort bauen BesetzerInnen seit März vergangenen Jahres auf rund 500 Hektaren Obst und Gemüse an, das sie auf den Märkten der Gegend, in Sevilla und an Genossenschaften verkaufen.

Auch die Empörten-Bewegung 15-M ist derzeit besonders aktiv. Unter dem Motto «Von der Empörung zur Rebellion» feiert sie diese Woche ihr zweijähriges Bestehen. Zwar sind die Forderungen immer noch dieselben: Änderung des Wahlsystems, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, bezahlbarer Wohnraum für alle, kostenfreie Gesundheitsversorgung und Bildung. Aber die Bewegung reicht inzwischen weit über die Jungen hinaus, die im Mai 2011 die zentralen Plätze des Landes besetzt hatten. So werden an diesem Donnerstag nicht nur Studenten und Schülerinnen Universitäten und Schulen besetzen, sondern auch Lehrer und Dozentinnen werden dies tun, um gegen die drohende Privatisierung des Bildungswesens zu protestieren. So werden nicht nur Jugendliche am Donnerstag den Filialen der Grossbank Bankia einen Besuch abstatten, die mit 25 Milliarden Euro Steuergeldern gerettet wurde, aber viele Familien auf die Strasse wirft, weil sie ihre Hypotheken nicht mehr bedienen können. Sondern auch militante RentnerInnen, die sich in der Gruppe der Iaioflautas (etwa: «alte Hippies») zusammengeschlossen haben.

Auch im Gesundheitswesen toben Kämpfe. Kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo Ärztinnen und Pfleger gegen die drohende Privatisierung von Spitälern auf die Strasse gehen. In Madrid haben sie mehrere Krankenhäuser besetzt und verwalten sie in eigener Regie. Selbst auf dem Land kommt es mitunter zu Aufständen. In der Region Kastilien-La Mancha hielten beispielsweise DorfbewohnerInnen Ambulatorien so lange besetzt, bis die Regierung die angekündigte Schliessung zurücknahm.

Gleichzeitig sind die Auseinandersetzungen härter geworden. Überall werden Politikerinnen und Banker auf der Strasse, in Restaurants, vor ihren Wohnungen und Büros angegangen. «Escrache» heisst diese Protestform, die aus Argentinien stammt: Dort hatten sich in den neunziger Jahren DemonstrantInnen vor den Wohnungen von straffrei gebliebenen Folterern der Militärdiktatur versammelt und sie öffentlich angeklagt. Seit zwei Monaten ist «Escrache» auch in Spanien ein Begriff. Begonnen hat damit die bislang äusserst friedliche Organisation der Hypothekengeschädigten PAH, die für die Rechte der rund 400 000 spanischen Familien kämpft, die seit Beginn der Wirtschaftskrise ihre Wohnungen verloren haben. Als das Parlament im Februar eine von 1,4 Millionen SpanierInnen unterschriebene Volksinitiative zur Änderung des Hypothekengesetzes ignorierte, ging PAH dazu über, den Abgeordneten lautstark die Meinung zu sagen. «Terror» nennt das die rechtskonservative Regierung – und sie will diese Protestform als neuen Straftatbestand einführen. Doch so leicht lässt sich in Spanien niemand mehr erschrecken. Im Gegenteil: PAH besetzt inzwischen, dem Beispiel der andalusischen Corralas folgend (siehe WOZ Nr. 11/13), im ganzen Land leer stehende Wohnblocks, die im Besitz von Banken sind.

Vor allem aber bringt der Protest neue Formen der Selbsthilfe und Solidarität hervor. Im Nordosten engagieren sich mittlerweile rund 1500 Menschen in der katalanischen Genossenschaft CIC, zu der sich Landkooperativen, Stadtteilgruppen, Tauschringe und ehrenamtlich tätige SpezialistInnen etwa aus dem medizinischen Bereich zusammengeschlossen haben, um Grundbedürfnisse (Lebensmittel, Wohnraum, Gesundheitswesen und Bildung) abzudecken. CIC entstand auf Initiative von Enric Duran: Der heute 37-jährige Katalane hatte sich zwischen 2005 und 2008 bei 39 Banken insgesamt 492 000 Euro geliehen, die er kleinen, finanzschwachen sozialen Projekten und der antikapitalistischen Zeitung «Crisi» zukommen liess – ohne jede Absicht, die Kredite jemals zurückzuzahlen. Duran wird per Haftbefehl gesucht und lebt im Untergrund; seine Genossenschaft hingegen hat immer mehr Zulauf.

Auch 15-M organisiert im ganzen Land immer wieder Tauschmärkte; viele Theatergruppen bieten inzwischen Aufführungen gegen Essen an, das sie an Bedürftige verteilen. Zudem sind zahlreiche Privatinitiativen entstanden, die Lebensmittel und Kleidung sammeln. Vor zwei Jahren sahen viele SpanierInnen in den 15-M-AktivistInnen bloss einen bunten Haufen von Hippies und arbeitslosen Jugendlichen. Jetzt beteiligen sich immer mehr Menschen aller Altersstufen an ihren Aktionen. Und sie alle interessieren sich wieder für Politik – allerdings nicht die parlamentarische.

Siehe auch «Mitten in der Bastion des Antikapitalismus »