Spanien: Massenproteste und ein bisschen Utopie
Die Regierung glaubte, den Zeitpunkt gut gewählt zu haben: Kurz vor der Urlaubszeit verkündete sie einen Kahlschlag bei den Sozialsystemen. Doch Ferien können sich nur wenige leisten.
Die Aktion war schon länger angekündigt gewesen. «Damit die Leute hier endlich Arbeit haben», werde es auch künftig Landbesetzungen geben, hatte Diego Cañamero, der Vorsitzende des andalusischen Sindicato Andaluz de Trabajadores (SAT), mehrfach gewarnt. Und so zogen am Dienstag vergangener Woche über tausend arbeitslose TagelöhnerInnen und Gewerkschaftsmitglieder unter sengender Sonne zur Finca Las Turquillas. Sie ignorierten die Schilder, die das 1200 Hektaren grosse Landgut in der Nähe des Ortes Osuna (zwischen Sevilla und Córdoba) als Militärgelände ausweisen, überkletterten die Absperrungen, kümmerten sich kaum um das Grossaufgebot an Sicherheitskräften und liessen sich unmittelbar vor dem streng bewachten Sperrgebiet nieder. Ihr Ziel hatten die SAT-GewerkschafterInnen mit Bedacht gewählt: Das Brachland gehört dem Verteidigungsministerium und steht damit unter direkter Kontrolle der Regierung in Madrid, die viele für die zunehmenden Probleme des Landes verantwortlich machen.
Las Turquillas ist bereits das zweite Landgut, das die SAT besetzt hält. Im März hatten LandarbeiterInnen schon die Finca Somonte okkupiert und eine Kooperative gegründet (siehe WOZ Nr. 22/12 ). Die andalusische Regionalregierung wollte das Grundstück verkaufen. Auch der Boden von Las Turquillas soll genossenschaftlich bewirtschaftet werden, sagen die derzeit rund fünfzig BesetzerInnen. Sie haben ein Dutzend Zelte aufgebaut, eine Küche und eine Dusche eingerichtet, direkt vor der Kaserne mit der Bearbeitung des Landes begonnen und Verhandlungen mit den Militärs geführt, die auf dem riesigen Gelände lediglich ein kleines Gestüt betreiben. «Die Pferdezucht hat doch keinerlei sozialen Nutzen», sagt SAT-Gewerkschafter Cañamero, ein ordentlich geführter Landwirtschaftsbetrieb könne hingegen viele Arbeitsplätze schaffen. Und auf die komme es vor allem an.
Arbeitsplätze sind tatsächlich bitter nötig – auch auf dem Land. Denn seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise ziehen immer mehr SpanierInnen von den Städten in kleine Dörfer. Die Arbeitslosigkeit ist hier zwar höher (in der andalusischen Provinz hat weit über ein Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung keine bezahlte Arbeit), aber die Lebenshaltungskosten sind tiefer. Und zur Not, so hoffen viele, kann man dort auch etwas Gemüse anbauen.
Jeden Tag Proteste
Halb Spanien rebelliert, und es ist nicht nur die schiere Not, die die Menschen antreibt. Fast täglich kommt es irgendwo im Land zu Demonstrationen, Kundgebungen, Besetzungen. So okkupierten am vergangenen Donnerstag SAT-Mitglieder in über zwanzig Ortschaften Arbeitsämter und Rathäuser. Am Wochenende organisierten Frauengruppen Kundgebungen im ganzen Land. In den nordspanischen Regionen Asturien und Kastilien-León kommt es seit zwei Monaten fast täglich zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen streikenden Bergarbeitern und den Ordnungskräften (siehe WOZ Nr. 25/12). Und am Montag demonstrierten in Sevilla über tausend Feuerwehrleute, PolizistInnen und Mitglieder der paramilitärischen Guardia Civil gegen die beschlossenen Lohnkürzungen – und weil sie es leid sind, für eine Regierung den Kopf hinzuhalten, die sie ihrer Meinung nach belügt und betrügt (wie die Pinocchiopuppe mit langer Nase zeigte, die sie mit sich führten).
Seit Wochen schon halten die Proteste an. In bislang ungekannter Eintracht protestieren RentnerInnen, Arbeitslose und Jugendliche Seite an Seite mit LehrerInnen, Krankenhauspersonal, VerwaltungsmitarbeiterInnen und anderen Beschäftigten des öffentlichen Diensts gegen den Kahlschlag des Sozialsystems. Besonders aktiv sind dabei die Iaioflautas, die rebellischen PensionärInnen, die an jeder Demo teilnehmen, immer wieder Bankfilialen besetzen und vor einem Monat das deutsche Konsulat in Barcelona okkupierten.
Selbst Anwältinnen und Richter blockieren manchmal die Strassen. Die jüngst beschlossenen Einsparungen treffen nicht nur die unteren Einkommensgruppen, sondern auch jene Schichten und Berufsgruppen, die im November noch mehrheitlich die Volkspartei PP gewählt hatten.
Die anfängliche Empörung ist längst einem Zorn gewichen, der breite Bevölkerungskreise erfasst hat. Und so gleicht das Parlament mittlerweile einer Festung. Es wird wie das PP-Hauptquartier in Madrid Tag und Nacht von der Polizei bewacht – für den Fall, dass BürgerInnen auf die Idee kommen sollten, nicht nur friedlich zu protestieren.
Diese Reaktion hat sich die PP zum Teil selbst zuzuschreiben: Nirgendwo in Europa regiert eine Partei mit solcher Häme, nirgendwo verachtet eine Regierung die Bevölkerung so sehr. Das zeigte sich beispielsweise, als Ministerpräsident Mariano Rajoy Mitte Juli dem Parlament die PP-Massnahmen zur Sanierung des Staatshaushalts vorstellte. Man werde bis Ende 2014 rund 65 Milliarden Euro einsparen, sagte er und listete dann unter anderem auf: Kürzung der Löhne im öffentlichen Dienst, Einfrieren der Renten, Anhebung der Mehrwertsteuer von 18 auf 21 Prozent, Streichung der staatlichen Hilfe für Pflegebedürftige sowie die Privatisierung von Flughäfen, dem Eisenbahnnetz und anderen öffentlichen Einrichtungen. Und bei jedem einzelnen Punkt klatschten die PP-Abgeordneten frenetisch Beifall. Als dann Rajoy auch noch die Kürzung der Arbeitslosenhilfe bekannt gab (und sagte, dass man damit die rund 25 Prozent Erwerbslosen zur «Arbeitssuche anspornen» wolle), rief die PP-Abgeordnete Andrea Fabra im Plenarsaal den 5,6 Millionen Arbeitslosen ein «¡Que se jodan!» zu: Fickt euch!
Franquistische Überbleibsel
Die PP war nach dem Ende der Francodiktatur von ehemaligen franquistischen Ministern gegründet worden, und noch heute kommen viele aktive Parteimitglieder aus Familien, die Francisco Franco bis zum Schluss unterstützt hatten. Zur Arroganz der Partei passt, dass Ministerpräsident Rajoy von einer Vermögenssteuer weiterhin nichts hören will. Dagegen hält seine Regierung unbeirrt an ihrer grosszügigen Amnestie für SteuerbetrügerInnen fest, obwohl von den versprochenen 2,5 Milliarden Euro bisher kein einziger Cent in der Staatskasse landete. Ausserdem verkündet Rajoy seine Entscheidungen nie persönlich, sondern er schickt entweder andere vor (wie die Vizepräsidentin Soraya Sáenz de Santamaría) oder überlässt fremdsprachigen Medien die Übermittlung schlechter Botschaften.
Eine neue Volksfront
Was nützen angesichts einer solchen beinharten rechtskonservativen Regierung Massendemonstrationen wie jene vor drei Wochen, an denen sich über eine Million Menschen beteiligte? Was können Besetzungen oder die täglichen Strassenschlachten wie in Asturien bewirken, wenn die Regierung nicht reagiert? «Uns fehlen die richtigen Instrumente und Mittel», sagt daher nicht nur Juan Manuel Sánchez Gordillo, seit 33 Jahren Bürgermeister der kleinen andalusischen Gemeinde Marinaleda. «Es ist zwar gut, dass wir weiter auf die Strasse gehen und gegen die Regierung demonstrieren. Aber wir brauchen eine breite Plattform aller linken Parteien, Gewerkschaften und sozialen Gruppen, um mit diesem Wirtschaftsterrorismus Schluss zu machen.»
Das klingt nach althergebrachter Bündnispolitik und ist doch neu: Bisher agierten in Spanien alle Gruppierungen und Organisationen vereinzelt und nur für sich – die Parteien, die (partei-)politisch ausgerichteten Gewerkschaften und auch die basisorientierte Bewegung «Demokratie jetzt!» der Empörten (15-M), die vor kurzem noch jede Kooperation mit etablierten Kräften ablehnte.
«Schleichender Staatsstreich»
Auch Julio Anguita glaubt, dass der Widerstand gebündelt werden muss – und plädiert deshalb inzwischen für einen «Frente Cívico», für eine gemeinsame Front aller BürgerInnen. Da es in der Politik immer um Macht gehe, werde eine einzelne Partei nichts ändern, argumentiert der Siebzigjährige, der von 1979 bis 1986 Bürgermeister von Córdoba und von 1988 bis 1998 Generalsekretär der Kommunistischen Partei war. Nur gemeinsam könne man den «Ausnahmezustand», den «schleichenden Staatsstreich» beenden. Er hat auch ein Zehnpunkteprogramm vorgelegt (unter anderem stärkere Besteuerung der Reichen, Regulierung und Kontrolle von Investmentgesellschaften, Verstaatlichung privater Banken, wirkliche Trennung von Staat und Kirche, Reform des Wahlsystems), das anderen Gruppierungen mittlerweile als Vorlage für eigene Programmdiskussionen dient.
Die 15-M-Bewegung hat sich inzwischen mehrheitlich dem Frente Cívico angeschlossen. Und auch die Gewerkschaften haben sich auf einen gemeinsamen Widerstand verständigt: Die ehemals kommunistischen Arbeiterkommissionen CCOO und die sozialdemokratische Arbeiterunion UGT sowie mehr als hundert kleinere Gewerkschaften und soziale Vereinigungen kündigten vor kurzem für den 15. September einen Sternmarsch auf Madrid an. Danach wollen sie eine Volksabstimmung zu den Sparmassnahmen organisieren und Ende September einen weiteren Generalstreik abhalten.
Aber genügt das? Wahrscheinlich nicht. Und deswegen hat die 15-M-Bewegung eine neue Initiative ergriffen und gegen 33 ehemalige Verwaltungsratsmitglieder der maroden Grossbank Bankia Klage eingereicht (siehe WOZ Nr. 28–30/12). Die aus einem Zusammenschluss von sieben Geldhäusern hervorgegangene und im Mai verstaatlichte Bank steht im Zentrum der spanischen Bankenkrise. Ihr Vorsitzender war Rodrigo Rato – von 1996 bis 2004 konservativer Finanz- und Wirtschaftsminister, von 2004 bis 2007 geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF).
Dass die PP-Regierung ihren Vorzeigefinanzfachmann nicht zur Rechenschaft ziehen will, kann man verstehen – auch wenn die Bankia-Aktien unter Ratos Führung drei Viertel ihres Werts verloren haben. Umso populärer jedoch ist der juristische Vorstoss: Kaum war die 15-M-Initiative publik geworden, boten sich Dutzende Bankia-Angestellte als ZeugInnen und fünfzig AktionärInnen als NebenklägerInnen an. Auch das für eine Privatklage nötige Geld war in null Komma nichts eingesammelt.
Klage gegen Bankia
Dass es zu einem Prozess kommt, ist nicht auszuschliessen: Ein Richter des Nationalen Gerichtshofs hat die Klage zugelassen, demnächst wird über das weitere Vorgehen entschieden. Einfach vom Tisch wischen kann die PP-Regierung das Verfahren jedenfalls nicht, denn in den eigenen Reihen rumort es. Nicht nur konservative KleinanlegerInnen sind sauer – auch PP-Bürgermeister widersetzen sich zunehmend der von oben dekretierten Sparpolitik.
Die von der Volkspartei kontrollierte Gemeindeverwaltung von Sevilla gehört noch nicht zu den Widerspenstigen. Aber auch hier muss sich die Stadt mit einer BesetzerInnenbewegung herumschlagen: In den letzten Wochen haben sich gleich mehrere Dutzend Familien «umquartiert», wie sie es nennen. Sie folgten damit dem Beispiel einer Aktion im Stadtviertel Macarena. Dort waren rund zwanzig Familien in ein neues, seit zwei Jahren leer stehendes Gebäude gezogen, nachdem sie ihre Wohnungen verlassen mussten, weil sie die Hypothek oder die Miete nicht mehr bezahlen konnten.
Kennengelernt hatten sich diese Familien über die 15-M-Arbeitsgruppe «Wohnraum», die seit über einem Jahr in Not geratene WohnungseigentümerInnen und MieterInnen berät. Und sie bauten das neue Haus (dessen Bauherr bankrottging und spurlos verschwand) in eine «corrala» um, eine Einrichtung, die es in Sevilla kaum noch gibt: Corralas hiessen früher Häuser mit mehreren Wohneinheiten, deren BewohnerInnen sich den Innenhof und andere Räume wie Küchen oder Badezimmer teilten.
Diese gemeinschaftsfördernde Struktur – die BesetzerInnen von Macarena gaben ihrem Projekt den Namen «La Utopía» und veranstalten Kinovorführungen, Konzerte, Volksküchen und Informationsabende – könnte Schule machen: Seit Beginn der Krise wurden in Spanien über 400 000 Familien aus ihren Wohnungen vertrieben. Und das, obwohl derzeit rund drei Millionen Wohnungen und Häuser leer stehen.
Siesta abgeschafft
Lange Zeit, so schien es, hatte die frühere sozialdemokratische PSOE-Regierung (2004 bis 2011) gut budgetiert. Vor der Krise lag die spanische Staatsschuld nur bei 36 Prozent der Wirtschaftskraft. Doch dann kollabierte der Immobilienboom, den die Volkspartei Partido Popular (von 1996 bis 2004 und seit Ende 2011 im Amt) massgeblich gefördert und dabei die Hände aufgehalten hatte. Seither wankt das spanische Finanzsystem. Anfang des Jahres hatte bereits die hoch verschuldete Region Valencia von der Madrider Zentralregierung Geld gebraucht, um Kredite zurückzahlen zu können. Mittlerweile stehen selbst Regionen wie das wohlhabende Katalonien vor dem Bankrott. Und für zehnjährige Staatsanleihen muss der Staat derzeit über 7,5 Prozent Zinsen zahlen: Das ist mehr, als alle Sparmassnahmen bringen. Die Antwort der PP? Sie verlängert jetzt die Geschäftszeiten und schafft die bisher vielerorts geltende Siesta ab.