John Zorn: «Bevor ich komponiere, wasch ich mir immer die Hände»
Er ist einer der einflussreichsten Musiker unserer Zeit und ein prägender Kopf der Avantgarde. Der Saxofonist und Komponist John Zorn gab der WOZ vor dem Festival für aktuelle Musik in Moers via Skype eines seiner raren Interviews.

WOZ: Herr Zorn, vielen Dank für Ihre spontane Zusage.
John Zorn: Das ist meine Spezialität, nicht wahr?
Unter welchen Kriterien haben Sie Ihre Mitmusiker für Ihre Konzertreihe ausgewählt? Mit Mike Patton oder Marc Ribot treten Sie ja schon seit einigen Jahren auf …
Es sind Leute, mit denen ich vor allem in den letzten Jahren oft gespielt habe und die ich sehr schätze. Es ist also keine Retrospektive aus den letzten 35 Jahren, sondern es geht darum, was mich heute beschäftigt.
Dieser Fokus auf die Gegenwart scheint ein wichtiger Bestandteil Ihrer Musik zu sein. Steckt da eine Philosophie dahinter?
Mich interessiert eigentlich am meisten die Gegenwart, auch wenn ich gelegentlich auf ältere Projekte wie etwa «Cobra» zurückkomme. Aber generell bin ich eher von dem fasziniert, was jetzt passiert.
Seit den siebziger Jahren arbeiteten Sie in unzähligen Projekten und auf weit über hundert Alben zwischen Jazz, Hardcore und Neuer Musik an der Dekonstruktion eines elitären Musik- und Kulturbegriffs. Und schon in Projekten in den frühen achtziger Jahren antizipierten Sie die heutige musikalische Landschaft im Internetzeitalter, in dem alle erdenklichen Musikstile gleichberechtigt nebeneinander existieren. Hat das Internet einen Einfluss auf Ihre Kompositionen?
Technik hat immer einen Effekt auf die Art, wie Künstler arbeiten. Aber sie ändert nicht meine grundlegende Vision. Meine Welt existiert ausserhalb von Technik. Sie ist für mich nur ein Interface, aber nie der Kern des kreativen Prozesses, eher eine Schnittstelle zwischen mir als Musiker und dem Publikum.
Verwenden Sie auch auf der Bühne oder für Ihre Kompositionen digitale Geräte?
Für meine Kompositionen benötige ich nur Stift und Papier, das ist alles. Im Studio nutze ich natürlich auch digitale Techniken, das fasziniert mich auch. Für Stücke wie «Spillane» von 1984 musste ich noch Tapes verwenden. Ähnliches lässt sich heute so viel schneller und detaillierter umsetzen.
Der Stift ist also eine Schnittstelle für das Hier und Jetzt?
Ja, und ich werfe meine Vergangenheit ja nicht weg, ich füge neue Dinge hinzu, die dann in den alten Ideen mitschwingen. Ich lerne ja immer wieder neue Musikerinnen und Musiker kennen. Es ist wichtig, loyal gegenüber seiner Vergangenheit zu sein und andererseits die Zukunft im Blick zu haben, um Raum für neue Erfahrungen zu öffnen.
In Ihrer kreativen Arbeit spielt Isolation eine grosse Rolle. Fällt Ihnen dies heute, in einer Zeit der potenzierten Zerstreuungsmöglichkeiten, schwerer als vor zwanzig Jahren?
Diesem Problem begegne ich von jeher auf zwei Arten. Erstens, indem ich keinerlei Ablenkungen zulasse. Das ist gar nicht schwierig, wenn man diszipliniert ist. Ich lese keine Zeitungen, höre kein Radio, habe keinen Fernseher, und ich bin oft zu Hause, um mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Zweitens habe ich gelernt, immer zu wissen, was wirklich relevant ist. Aber isoliert bin ich eigentlich nie. Wenn ich komponiere, denke ich immer schon an bestimmte Musiker. Ich bin Teil einer Community. Alleine zu sein, ist mir aber auch wichtig, um die Batterien aufzuladen.
Hatten Sie denn nie eine Schreibblockade?
Nein, eigentlich nie. Ich habe da eine sehr interessante Methode: Du befindest dich in einem Raum mit zehn Türen und versuchst, eine der Türen zu öffnen, und sie ist verschlossen. Würdest du immer wieder an derselben Tür anklopfen oder eine andere ausprobieren? Wenn ich mal nicht weiterkomme, nehme ich einfach eine andere Tür. Es gibt auch immer Phasen zwischen Kompositionen, in denen ich bloss recherchiere. Man könnte auch sagen: sich in Friedenszeiten auf den Krieg vorbereiten. Picasso hat einmal gesagt: «Die Inspiration existiert, aber sie muss dich bei der Arbeit finden.»
Was inspiriert Sie denn zurzeit?
Jeder Künstler hat andere Arten, mit dem eigenen kreativen Prozess umzugehen. Manche sitzen einfach herum und warten darauf, dass die Inspiration kommt. Dafür habe ich jedoch keine Geduld. Ein wichtiger Teil meiner Kreativität besteht, wie gesagt, darin, jegliche Zerstreuungen auszublenden, sei es Werbung, Pornografie oder Nachrichten. Unterhaltung ist für mich keine Unterhaltung, sondern einfach nur Ablenkung. Andererseits verstehe ich mein Talent als Gabe. Denn ich bin nicht einfach nur ich, sondern immer ein Bestandteil von etwas Grösserem.
Könnten Sie das näher erläutern?
Viele Leute verbringen ihr ganzes Leben damit, nach etwas zu suchen, das grösser ist als sie selbst. Für manche Menschen ist es Gott, für andere die eigene Familie, für manche Geld, you know? Für mich ist es Kunst und Musik. Daran glaube ich. Die musikalische Tradition reicht Jahrtausende zurück, und ich bin sehr glücklich darüber, ein Teil dieses Kontinuums zu sein.
Zur kreativen Arbeit gehören oft auch Rituale. Haben Sie sich eine bestimmte Arbeitsroutine zugelegt?
Bevor ich komponiere, wasche ich mir immer die Hände. Ich versuche stets, so rein wie möglich zu sein, jeden Tag gute Dinge zu tun, eine positive Energie zu verbreiten und mich darauf zu konzentrieren, wozu ich hier bin. Mit meiner Musik möchte ich die Welt zu einem besseren Ort machen. Ich verstehe das als meine Pflicht. Und ich bin glücklich darüber, dass ich zurzeit damit erfolgreich bin.
Haben Sie noch andere Gewohnheiten?
Es gibt einen Raum im hinteren Teil meiner Wohnung, den ich ausschliesslich zum Schreiben nutze. Dort stehen ein kleiner Schreibtisch sowie ein kleiner Stuhl. Beide Möbelstücke besitze ich, seit ich acht Jahre alt bin. Dadurch halte ich stets eine kreative Energie aufrecht. Zurzeit befinde ich mich auf dem kreativen Höhepunkt meines Lebens.
Haben Sie jemals befürchtet, im Alter diese kreative Energie zu verlieren?
Nein, meine Kunst besteht in der Verankerung im Hier und Jetzt. Ich habe niemals grössere Pläne für die nächsten Jahre geschmiedet oder darüber nachgedacht, wie es wäre, sechzig Jahre alt zu sein. Genauso denke ich heute nicht darüber nach, was sein wird, wenn ich mal siebzig bin. Ich arbeite Tag für Tag.
Mit Ihrem Label Tzadik sowie dem Club «The Stone» sind Sie als Förderer und Kollaborateur eine der zentralen Figuren der experimentellen Musikszene New Yorks. Wie steht es eigentlich um die New Yorker Szene?
«The Stone» läuft sehr gut. Wir haben erst kürzlich unsere Richtlinien geändert. Früher haben wir einen Künstler oder eine Künstlerin ein ganzes Monatsprogramm zusammenstellen lassen. Mittlerweile geben wir den Musikern die Möglichkeit, eine Woche lang täglich zu performen. Letzte Woche hatten wir Steve Coleman zu Gast. Es sind meistens Leute, die sonst kaum Chancen haben, in grösseren Locations wie etwa dem berühmten «Village Vanguard» aufzutreten.
Können Sie etwas zur fortgeschrittenen Gentrifizierung der Stadt sagen, die immer mehr zu einer Art kulturellen Rezession führt?
Die Wohnsituation ist wirklich sehr problematisch. Als ich 1977 in meine Wohnung, in der ich bis heute lebe, eingezogen bin, hat sie 50 US-Dollar im Monat gekostet. Heute bezahle ich 2000 Dollar. Aber das ist der Lauf der Dinge. Es gibt nicht viel, was wir dagegen tun könnten. Entweder du lernst, dich anzupassen, oder du stirbst. Es strömen aber trotzdem immer noch sehr viele junge Musiker in diese Stadt. Sie teilen sich Wohnungen oder ziehen in eines der vielen besetzten Häuser, in denen man noch günstig wohnen kann. Generell gibt es hier aber mehr interessante Musikerinnen und Musiker als je zuvor.