Textilproduktion in Bangladesch: Hunderttausend Hosen. Und das jeden Monat
Am Rand von Dhaka bauen immer mehr Firmen immer grössere Textilfabriken für den Export. Nicht alle stürzen ein, aber alle verschlingen Menschen. Und keine der grossen Modeketten, die in Bangladesch einkaufen, muss sich dafür rechtfertigen.
Noch ist es angenehm, der frühe Morgen sorgt für klare Luft. Erst in ein paar Stunden wird der Smog über Dhaka hängen, einer der am dichtesten besiedelten Städte der Welt. Hinaus zur Fabrik geht es nach Norden. Hosen werden hier hergestellt, aus leichtem Stoff für den Sommer und das ganze Jahr über aus Denim. Ebenso Strickwaren, Hemden, Kleider, Jacken, Pullover. Was immer Menschen tragen sollen, was immer Markenfirmen in Europa und den USA bestellen – von der Fabrik bekommen sie es in rauen Mengen. Sie ist eine der grössten von Bangladesch, 35 000 Menschen arbeiten hier.
Immer grössere Fabriken sorgen für Bangladeschs Textilexporte, und die Fabrik gehört zu den grössten Textilfirmen des Landes. Sie liegt vor den Toren der Stadt, wo ständig neue Werke entstehen. Uttara heisst das Quartier, durch das der Turag fliesst, einst ein breiter Strom, heute eingezwängt zwischen grauen Dünen. Von der Strasse aus sind staubige Slums aus Wellblech zu sehen, unten am Fluss waschen sich Frauen in bunten Gewändern, verbogene Skelette aus Stahlbeton erzählen von Vorhaben, die nie verwirklicht wurden. Hinter hohen Mauern liegen Fabriken, aus denen durch Rohre blaues oder rotes Wasser in den Turag fliesst, wo Frauen das Wasser abkochen, bevor sie damit Essen zubereiten. Der Turag ist ein toter Fluss, aus dem Methangasblasen aufsteigen.
Die billigsten Arbeitskräfte
Für die vierzig Kilometer zur Fabrik brauchen wir heute Morgen etwas mehr als zwei Stunden, das liegt im Schnitt. Später am Vormittag und gegen Abend, wenn sich Lastwagen, Busse und Autos auf der zweispurigen Strasse nebeneinanderquetschen, kann die Fahrt dreimal so lang dauern. Der Mann, der das Auto lenkt, gehört zum mittleren Management der Firma. Wie viele Manager in Bangladesch war er Offizier bei der Armee, seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Er hat kurze Haare, ein freundliches Gesicht, sein Umfang nimmt um die Körpermitte zu. Über den Namen, den wir ihm für die Zeitung geben, lacht Major Shaqueel. Die Fabrik, sagt er, erwirtschafte offiziell einen Monatsumsatz von zwanzig Millionen US-Dollar, mache aber schon seit zehn, zwölf Jahren keinen Profit mehr. Das funktioniere, weil das Werk einem der grössten Konzerne des Landes gehöre. Und weil ständig irgendwie improvisiert werde.
Hinein ins Werk kommt man nur mit jemandem wie Major Shaqueel, der eine gewisse Distanz zu den Dingen hat. Es gebe keine ordentliche Buchhaltung, erzählt er, nicht alles verlaufe in geordneten Bahnen, Korruption gebe es, Faulheit auch; das ärgere ihn. Andererseits aber sei der Chef ein Kämpfer: Er zerreisse sich für neue Aufträge und wolle besser wirtschaften.
Major Shaqueel, der herzliche Mann, hat feste Vorstellungen von der Welt: Die Fähigkeiten der Menschen und ihr Platz in der Gesellschaft kämen von Gott, genauso wie Reichtum und Armut. Es komme darauf an, was man daraus mache. Arbeit, sagt er, nutze den Armen, und deshalb dürfe der Chef schon mal Vorschriften umgehen, die das Leben kompliziert machen. Gewiss, so richtig gut sei das nicht, sagt Major Shaqueel und blickt wieder auf die Strasse. Und erzählt dann, dass es in der Fabrik eine Krankenstation gibt: «So eine wie sonst in der ganzen Gegend nicht.»
Der Chef der Fabrik kommt jeden Morgen mit dem Hubschrauber. Eine Viertelstunde dauert das, und neben dem Landeplatz stehen bunte Blumen. Drei Feuerwehrmänner salutieren mit der Hand am Helm. Heute trägt der Chef einen blauen Blazer, darunter spannt ein Hemd mit roten Streifen. Die weissen Schläfen sind akkurat gestutzt: Eine hochrangige Delegation eines deutsch-niederländischen Textilunternehmens ist angereist.
Die Filialen des Unternehmens fehlen in keiner deutschen Einkaufszone, ein alter Familienbetrieb, der längst die Welt umspannt. Massenware aus dem mittleren Preissektor, Familien kaufen dort ein. Der Chef hält einen Vortrag, den er schon oft gehalten hat. Er mischt Details mit dem grossen Ganzen, stellt die Idee der vertikalen Fabrik vor: Alles wird an einem Ort produziert. «So etwas finden Sie in ganz Bangladesch nicht.» Der Chef glänzt ein wenig, wenn er das sagt, aber er lauert auch, beobachtet die Gäste. Illusionen hegt er keine: «Hier in Bangladesch gibt es die billigsten Arbeitskräfte, deshalb sind Sie zu uns gekommen.» In China, sagt er, verdiene ein Arbeiter viermal so viel. Der Delegation, die aus Europa angereist ist, sagt er damit nichts Neues. Deshalb sind sie ja hier.
65 US-Dollar? Eine Lüge!
Und was verdienen diese billigsten Arbeitskräfte? Zwischen 65 und 75 US-Dollar, antworten die Abteilungsleiter, das sei mehr als in anderen Betrieben. Nazma Akter jedoch, die wir später in Dhaka befragen, die selbst in der Fabrik gearbeitet und trotz Anfeindungen und Schwierigkeiten Awaj gegründet hat, eine Gewerkschaft der TextilarbeiterInnen, hält das für eine glatte Lüge. 65 Dollar, sagt sie, bekommen nur Vorarbeiter oder Arbeitskräfte, die an besonderen Maschinen sitzen.
Will man die ArbeiterInnen fragen, muss man raus aus der Fabrik – dort spricht es sich nicht frei. Mohammed geht voran, ein altgedienter Vorarbeiter, und doch ist in ihm ein Aktivist verborgen, einer, der etwas tun möchte. Er tut es vorsichtig: Um die ArbeiterInnen in den Wohnblocks zu besuchen, hat er einen Freitag ausgesucht, den einzigen freien Tag in der Woche. Da bleiben die Chefs zu Hause, und Mohammed hofft, dass sie deshalb nichts von dem Reporter mitbekommen, der durch die Siedlung marschiert.
Um die Fabrik hat sich ein einfaches Viertel gelegt, unbefestigte Wege, ein kleiner Markt unter einer geflickten Plane, viele schiefe Hütten, dazwischen grössere Steinhäuser, die vor Wind schützen, ein schmutziger Tümpel. In den Gängen der Wohnanlage, zu der Mohammed führt, hört man das Wummern der Generatoren, das Pfeifen der Abluftanlagen. Von den langen Korridoren gehen Zimmer ab, in die genau ein breites Bett passt. Darunter liegt die Habe, darauf sitzen die Mieter: Jameel, Abdul und Khalid kommen aus der Provinz und sind nur am freien Freitag gleichzeitig im Zimmer. Jameel arbeitet in der Frühschicht, Abdul geht am Nachmittag in die Fabrik. Khalid blickt benommen drein, er ist gerade aufgewacht.
Auf die Frage nach ihrem Lohn lächeln sie – umgerechnet 30 US-Dollar verdient Jameel, mit 23 Jahren der Jüngste. Abdul, knapp 50, ist Vorarbeiter und verdient 58 Dollar. Seit zehn Jahren arbeitet er in der Schneiderei, wo er am Rechner Muster überwacht, die in Stoffbahnen geschnitten werden. Khalid sagt nicht viel, er liegt dazwischen – beim Lohn, beim Alter, auch im Bett.
Nach Hause fahren sie etwa alle drei Monate. Fast einen Tag ist Abdul dann unterwegs. Zwei Tage bleiben ihm für die Familie. Drei Kinder hat er, das jüngste ist zehn Monate alt. Er erzählt vom Land, und die Stimmung wird vergnügt. Wunderschön sei es dort. Abdul, bist du glücklich, hier, in einem Industriegürtel? Mit 58 Dollar monatlich, von denen auch noch die Unterhaltskosten abgehen? Abdul schaut überrascht, blickt den Besucher fest an. Mohammed übersetzt: «Ich bin sehr glücklich hier! Ich habe noch nie so gut verdient.»
Die Fabrikgesellschaft
Als wir die Wohnanlage verlassen, wird es dunkel, auf dem Markt liegen Fische unter Lampen, uralte Männer sitzen zwischen Gewürzbergen. Die Fröhlichkeit der drei Arbeiter bleibt ein Rätsel. Das Land ähnelt Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Industrie stürmt voran, die Bevölkerung wächst rasant. Das Leben vieler Menschen hängt immer noch von der Landwirtschaft ab. Gleichwohl ziehen zahllose Lohnabhängige zu den Fabriken, werden in sie hineingetrieben wie während der Industrialisierung in Europa, als – wie Karl Marx beobachtete – die Laufzeiten der Maschinen den Lebensrhythmus der ArbeiterInnen durchdrangen und die Maschine den Menschen zum Objekt degradierte.
Hinter den engen Gassen geht der Mond auf, es riecht streng. In Bangladesch, einem Land etwa dreieinhalbmal so gross wie die Schweiz, drängen sich jetzt 164 Millionen Menschen, fast doppelt so viele wie eine Generation zuvor. Heute produziert die Textilbranche Güter im Wert von 16 Milliarden US-Dollar. Ökonomische Entwicklungstheorien gehen davon aus, dass die Wirtschaft die Entwicklung einer Gesellschaft vorantreibt. Wer die Zahlen von Bangladesch anschaut, kann sagen: Es wird besser. Die Lebenserwartung hat sich erhöht, die Kindersterblichkeit sank, achtzig Prozent der Bevölkerung haben jetzt Zugang zu Trinkwasser. Wer jedoch durch die Fabriken geht, sieht: Während es einigen immer besser geht, bleiben die, auf deren Rücken Wohlstand erzeugt wird, aussen vor. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, fast achtzig Prozent der Arbeit in den Textilfirmen werden von Frauen verrichtet. Wer vor fünfzehn Jahren drei US-Dollar im Monat verdiente, bekommt jetzt zwar dreissig. Doch die meisten Frauen sind ab dem 35. Lebensjahr ausgelaugt, ihre Körper versehrt.
Der italienische Philosoph Antonio Negri beschrieb den Unterschied zwischen Moderne und Postmoderne einmal damit, dass in der modernen Fabrik «die besonderen Regeln von Produktion und Ausbeutung» entstanden seien. In der Postmoderne hingegen hätten sie die Fabrikmauern «hinter sich gelassen, um alle gesellschaftlichen Verhältnisse zu durchdringen und zu definieren». Negri begreift die postmoderne Gesellschaft als «gesellschaftliche Fabrik». Die Nacht hat die Fabrikmauern fast verschluckt, lautes Dröhnen überlagert alle Geräusche: Hier steht die Figur der Moderne fest und in voller Blüte. In der Fabrik herrschen steile Hierarchien, Massenproduktion, Akkordarbeit, Taylorismus. Vorgesetzte schreien auf ArbeiterInnen ein, als würden diese ihnen nach dem Leben trachten. Die Moderne, das sind Ströme von Hosen oder Kleidern, je nach dem flüchtigen Gang der Moden. Am Ausgang werden die Taschen kontrolliert. Draussen auf dem Land ordnen alte Bräuche das Leben.
Das grosse Ganze
Der Chef setzt seine Präsentation fort: Aufträge werden per E-Mail vergeben, die Feinabstimmung erfolgt über Videokonferenzen, Designs verändern sich innerhalb von Minuten. Manager und DesignerInnen sitzen in klimatisierten Räumen. Von 11 auf 80 Millionen Pfund soll die Stoffproduktion steigen, 44 Millionen Strickwaren will die Fabrik pro Jahr herstellen. Über den ArbeiterInnen sammeln sich derweil Fusseln in speckigen Ventilatoren, sechs Tage die Woche, oft auch sieben. Ihr Leben werde bitterer, erzählen sie: Immer schneller müssen sie immer grössere Mengen zuschneiden, nähen oder bleichen. Wer krank wird, wird rasch entlassen, wer Rechte einfordert, kommt auf eine schwarze Liste und bleibt draussen und darf allenfalls den Müll sortieren. Der Konferenzsaal ist mit Milchglasscheiben ausgekleidet, der Chef erklärt die Welt mit Powerpoint: 2020 will er eine Milliarde US-Dollar Umsatz erzielen.
Hinten im Konferenzsaal hängt ein gerahmtes Foto, darauf steht der Chef neben dem Gründer von Zara – dem aktuell drittreichsten Mann der Welt. Ein Vorbild, sagt der Chef. Schliesslich fragt er noch, ob die Delegation vielleicht eine DVD dabeihabe, er möchte seinen ArbeiterInnen einmal die Bilder von den Geschäften in Europa und den USA zeigen. «Sie sollen merken, dass sie Teil von etwas Grossem sind.»
Das Grosse sind die Hunderttausenden von Hemden für die spanische Marke Zara oder den schwedischen Grosskunden H&M. Dabei sind die Arbeitsabläufe immer gleich, nur manchmal ist das Material besser, gibt es ein paar Nähte mehr, werden beim Zuschneiden weniger Stoffbahnen übereinandergelegt, sind die Passformen akkurater. Das entscheidet, ob das Hemd in einer gesichtslosen Mall im Mittleren Westen der USA oder in einer Boutique in Bern landet. Draussen arbeiten sie gerade an der zweiten Charge für Walmart: sechs Millionen Jeans in zwölf Farben.
«Niemand will für Walmart arbeiten», sagt Major Shaqueel. «Walmart lässt Hosen für drei US-Dollar produzieren, da bleibt kein Profit.» Die Firmen arbeiten lieber für Tommy Hilfiger oder Calvin Klein, die zahlen für die Hosen 15 US-Dollar und verkaufen sie für 70 oder 150 Dollar. Bei Walmart kosten sie 10 und 30 Dollar. An jeder Filiale steht das Motto: «Safe money. Live better.» Dicht vor uns wechselt ein Bus abrupt die Spur, drängt den Lastwagen ab, die Rikschas verlieren sich im Staub.
Umweltziele und Allgemeinplätze
Im Konferenzsaal erklärt der Chef Umweltziele, an der Wand erscheinen Fotos von Grünanlagen, über denen Worte wie «Community Commitment» und «Sustainability» stehen – dieselben Begriffe wie auf Sitzungen in New York oder London. Die ZuhörerInnen nicken. Der Chef lehnt sich vor. Es folgen Allgemeinplätze: «Die nächsten Kriege werden nicht um Land geführt, sondern um Wasser.» Draussen vor dem Haupttor fliesst ein blauer Bach aus dem Fabrikgelände. Stofffetzen treiben darin, Styroporwürfel. Der Geruch verschlägt einem den Atem: Verdorbenes stinkt so, Krankheit, Tod. Man könnte denken, der Bach stinke nach Arroganz. Wer Zugang zum Fabrikgelände hat, kann dem Bach bis etwa dorthin folgen, wo links das neue fünfstöckige Fabrikgebäude steht. 50 000 Jeans nähen sie hier. Pro Tag. Im Konferenzsaal sagt der Chef: «Wir haben eine Kläranlage für unser Abwasser.»
Der hohe Zaun und die bewachten Tore um den Industriepark markieren zwei scharf voneinander getrennte Welten: Zum Schichtwechsel nach Sonnenaufgang hasten Tausende ArbeiterInnen durch die Gassen, an fauchenden Ventilen und verbogenem Metall vorbei, die Kleider bunt und irgendwie eleganter als vieles, was sie herstellen. Hinter Fenstern sitzen Näherinnen in langen Reihen, laufen Zuschneider an Tischen entlang, packen Frauen fertige Kleidungsstücke in Tüten. In einem ersten Stock fräsen Dutzende Frauen Löcher in Jeans, schmirgeln Oberflächen kaputt, die unten gewebt wurden: «Used Look». An zwei Gebäuden sind die Fenster neu.
Die seien neu, sagt Major Shaqueel, weil die ArbeiterInnen sie einschlugen. «Die Fabrik hat ihnen zwei Monate die Löhne nicht ausgezahlt.» Das Unternehmen bügelte so eine Fehlplanung aus. Major Shaqueel, wenn die Fabrik keinen Gewinn macht, wer dann? Er lacht: «Die grossen Ketten, die Marken, wer denn sonst?»
Aber es gibt auch Parkanlagen, vor dem Gästehaus stehen Hecken in Hasenform, Blumenrabatten winden sich um Tümpel, Pfaue laufen durch ihr Gehege. Der kanadische Fotograf Edward Burtynsky spricht von «manufactured landscapes», wenn er Industriearchitektur ins Bild rückt. Die hergestellte Landschaft hat ein Gegenstück, draussen: karger Boden, verfärbte Gewässer, Industriemüll. Der blaue Bach ist eine der Verbindungen zwischen beiden Welten.
Bangladesch ist in den letzten Jahren zur drittwichtigsten Produktionsstätte für Mode gewachsen, von billigen Plastikhemdchen bis zur teuren Strickmode. In China entstehen Technikfirmen, neue ArbeiterInnen löten Chips auf Platinen, wo gerade noch Hosen für den Weltmarkt genietet wurden. «Fünfzehn Jahre werden wir hier boomen», sagt Major Shaqueel. Auch er weiss: Die Textilindustrie ist ein flüchtiges Gewerbe. Wenn die Löhne steigen, wenn Lohnabhängige Ansprüche stellen, wenn etwas aufgebaut werden soll, was nicht unmittelbar in Gewinn umzumünzen ist, werden Aufträge anderswo vergeben. In Sri Lanka und Vietnam zum Beispiel, Burma erwacht gerade erst. Major Shaqueel rechnet so: «In zehn Jahren mache ich etwas anderes.»
Vor zehn Jahren untersuchten WissenschaftlerInnen in Mexiko, was von den Versprechen der Textilbranche übrig blieb. Irgendwann kamen sie auf die Idee, zwei Karten übereinanderzulegen: Unten eine Abbildung der Armutsbewegungen im Land, darüber zeichneten sie die Wanderung der Textilfirmen. Die Firmen waren den Armen hinterhergelaufen. An den Orten, die sie verlassen hatten, blieb nichts.
«Was für Kunden wünschen Sie sich?»
Kurz vor der Fabrik passieren wir ein kilometerlanges Industriegebiet, dass sich an beiden Seiten die Strasse hinabstreckt, Ziegelbauten und Schornsteine ragen über Mauern. Es ist die Export Processing Zone (EPZ), die Exportproduktionszone von Dhaka. Die zwei Drittel, die der Anteil der Textilindustrie am Gesamtexport ausmacht, werden in solchen Zonen hergestellt: Gewaltige Industriegebiete, vom Staat gebaut, von InvestorInnen genutzt. Hinter den Toren gilt ein anderes Steuerrecht, ein anderes Arbeitsrecht. Importiertes Rohmaterial und die ArbeiterInnen gehen herein, heraus kommen fertige Produkte, keine Zölle, vereinfachte Formulare, niemand darf zuschauen. So die Idee.
In der Realität setzen sich die Firmen jedoch darüber hinweg. «Zwischen 10 und 25 Prozent der Arbeit werden ausserhalb geleistet», sagt Major Shaqueel. Denn die einfachsten, billigsten Tätigkeiten können in Kleinbetrieben oder in Heimarbeit erledigt werden, gelegentlich stehen ganze Produktionsstrassen für ein paar Tage still – es ist billiger, sie auf einen grösseren Auftrag warten zu lassen, als sie mit kleinen Quoten zu blockieren. Die Kundschaft ist ungeduldig.
Für die Qualitätskontrolle ist dieses Outsourcing der blanke Horror, die Arbeitsbedingungen kontrolliert niemand, den Markenfirmen ist das egal. Billig muss es sein: In Dhakas Stadtteil Mirpur kann man Subunternehmen besuchen, die gerade T-Shirts für H&M bedrucken. In Europa bräuchte es dafür Abluftanlagen und Arbeitsschutz. Eine Fabrik hat die Grösse einer flachen Turnhalle, die fensterlosen Wände sind russgeschwärzt: Kleine Mädchen, vielleicht zwölf, vielleicht fünfzehn Jahre alt, kratzen Druckschablonen aus, füllen sie auf. Etwa zwanzig Dollar bekämen sie im Monat, erklärt eine junge Arbeiterin vor der Tür. Die Waren gehen am nächsten Tag zurück in eine EPZ.
Die Fabrik stürzt nicht ein, es gibt keine Toten, kein Einkäufer einer grossen Modekette muss sich rechtfertigen: Die Ausbeutung der Armut, die Zerstörung der Umwelt sind der Sockel, auf dem die Industrie funktioniert. Die erste Frage nach dem Vortrag des Chefs stellt die Frau, die der Delegation vorsteht: «Was für Kunden wünschen Sie sich?», fragt die US-Amerikanerin und lächelt undurchdringlich. Der Chef lächelt gleich zurück. In der Präsentation hatte er kurze Lieferfristen versprochen: 100 000 Jeans in 50 Tagen, Strickwaren in 35 Tagen. Auch die letzten Trends aus Europa könnte man jetzt industriell imitieren: Upcycling, Organic Fashion. Denn ökologisch ist gut für die Umwelt, eine tolle Geschichte.
Der Chef rückt ein wenig vom Tisch ab. Er sagt: «Ich möchte mit Ihnen über viele Jahre zusammenarbeiten. Ich möchte mit Ihnen hunderttausend Hosen im Monat herstellen. Jeden Monat.»
Major Shaqueel sagt: «Wir dürfen nicht vergessen: Die Fabrik bringt Menschen Arbeit. Sie setzt ihnen ein Mahl auf den Tisch. Sie ernährt Familien.»
Die Amerikanerin sagt: «Nachhaltigkeit, das ist für uns das ganz grosse Thema.»
Der Chef sagt: «Ich möchte Ihr Freund sein. Ich möchte mit Ihnen Geld verdienen.»
Draussen radiert das Brüllen der Fabrik alle Geräusche aus. Und nach links fliesst der Bach, tiefblau.
Sicherheitsabkommen für Bangladeschs Textilindustrie: Kaum mehr als ein Anfang
Es sei ein «global breakthrough», ein weltweiter Durchbruch, meldete die nichtstaatliche Organisation Clean Clothes Campaign (CCC) Mitte Mai euphorisch, nachdem Modemarken aus aller Welt ein Abkommen zur Verbesserung der Feuer- und Gebäudesicherheit in Bangladesch unterzeichnet hatten.
Die Vereinbarung kam zustande, nachdem Ende April beim Einsturz einer Textilfabrik 1127 Menschen gestorben und rund 2500 teils schwer verletzt worden waren. TextilarbeiterInnen und Arbeits- wie auch Menschenrechtsorganisationen forderten daraufhin bessere Arbeitsbedingungen. Weltweite Protestaktionen und Kampagnen etwa von CCC brachten die Modeketten in Zugzwang.
In relativ kurzer Zeit unterzeichneten deshalb globale Konzerne wie Inditex (Zara, Pull & Bear, Massimo Dutti) oder H&M, aber auch grosse Marken und Ketten wie Benetton, C&A, die Charles-Vögele-Gruppe, Carrefour, El Corte Inglés, Esprit, Helly Hansen, Mango, Marks & Spencer, PVH (Tommy Hilfiger, Calvin Klein) oder Tesco das Papier. Nicht unterschrieben haben bis Redaktionsschluss US-Konzerne wie Walmart und Gap.
Konkret geht es beim Abkommen um bauliche Verbesserungen der Produktionsstätten, Sicherheitstraining für FabrikarbeiterInnen und regelmässige Inspektionen – die von den Marken mitfinanziert werden sollen. Die Mitsprache von ArbeiterInnen und Gewerkschaften ist ebenfalls vorgesehen. Doch obwohl sich die internationalen Textilunternehmen im Abkommen zu einem langfristigen Engagement verpflichten müssen, befürchten die Regierung von Bangladesch und lokale Unternehmensverbände bereits, dass Textilkonzerne ihre Produktion in andere Länder wie Vietnam oder Kambodscha verlagern. So sagte Karl-Johan Persson, Geschäftsführer von H&M, Anfang vergangener Woche gegenüber der «Financial Times», dass sich der Konzern nach neuen Produktionsstätten in Lateinamerika oder Afrika umsehe.
Allzu gravierend kann sich das Abkommen aber nicht auswirken, werden doch mit keinem Wort Löhne oder Arbeitsrechte erwähnt. Die betroffenen TextilarbeiterInnen protestieren deshalb weiter – für eine Erhöhung des seit 2010 vorgeschriebenen Mindestlohns von rund 37 auf 100 US-Dollar. Die Regierung reagiert wie gehabt. So kam es Anfang letzter Woche bei einer Grossdemonstration ausserhalb der Hauptstadt Dhaka zu schweren Zusammenstössen zwischen TextilarbeiterInnen und der Polizei, die Gummigeschosse und Tränengas einsetzte. Fünfzig Personen wurden dabei verletzt.
Lennart Laberenz , Sonja Wenger