Umweltschutz : «Wir hätten viele Tote vermeiden können»

Nr. 23 –

Europas abtretende oberste Umweltschützerin, Jacqueline McGlade, sagt: Die EU ist gut darin, Gesetze zu machen, aber schlecht darin, sie umzusetzen. Ein Gespräch über den Einfluss von Lobbys und darüber, was gegen sie unternommen werden könnte.

Jacqueline McGlade: «Wollen wir mehr Investitionen in Kläranlagen oder weniger Hormone in den Medikamenten?» Foto: Eric Laycock, Esri

WOZ: Jacqueline McGlade, Sie waren die vergangenen zehn Jahre Chefin der Europäischen Umweltagentur (EEA). Geht es der Umwelt in Europa heute besser als vor Ihrem Amtsantritt?
Jacqueline McGlade: Was die grossen Schlagzeilen angeht: Ja. Die Qualität von Luft und Wasser hat sich verbessert, an einigen Punkten ist die Artenvielfalt gut geschützt worden. Aber – und das ist ein sehr starkes Aber – wir haben Schwierigkeiten, mit dem Tempo mitzuhalten, in dem in der realen Welt die Veränderungen wie etwa der Klimawandel ablaufen. Daher wird der Zustand der Umwelt allgemein schlechter.

In Ihrem aktuellen Report (vgl. «Bittere Erkenntnis» im Anschluss an diesen Text) schreiben Sie, das politische System stehe unter grossem Druck von Interessenverbänden.
Als ich vor zehn Jahren ins Amt kam, konnte man die Landschaft der Interessen einfach beschreiben: Politik, Industrie, Öffentlichkeit, vielleicht Umweltverbände. Heute gibt es viel mehr Interessengruppen, und durch die neuen Medien können sie sich viel schneller und lauter Gehör verschaffen. Wer heute versucht, Politik zu machen, sieht sich so viel Komplexität gegenüber, dass er viel aufmerksamer sein muss gegenüber den Beweisen, die er bringt. Und er muss sehen, woher die Argumente kommen, die auf dem Tisch liegen.

Was ist da die Rolle der EEA?
Wir müssen die Instanz sein, die Informationen bewertet und glaubwürdig macht. Vor zehn Jahren haben die Regierungen uns ihre Daten geschickt, und wir haben daraus Berichte geschrieben. Heute haben die Behörden, die Industrie und die Bürger ihre Daten bei sich zu Hause. Wir sind nicht mehr die Pförtner für Informationen, sondern die Qualitätskontrolleure.

Wir wissen heute mehr als je zuvor über ökologische Zusammenhänge. Wir haben so viele Institute, Ministerien und weltweite Verträge wie noch nie. Trotzdem verschlechtert sich die Lage der Umwelt. Weshalb?
Das hat mit dem Zusammenhalt der Gesellschaft zu tun. Wir werden nie eine ökologische Wende sehen, wenn wir unser alltägliches Verhalten nicht ändern. Man braucht immer noch starke Institutionen und Vorschriften: Ohne die Gesetzgebung zu den Badegewässern würden wir immer noch in der Kloake schwimmen. Dann aber gibt es Chemikalien in der Umwelt, für die niemand direkt verantwortlich ist. Die Umwelthormone sind so ein Fall: Wenn viele Frauen die Pille zur Empfängsnisverhütung nehmen, landen die hormonellen Rückstände im Wassersystem. Die Kläranlagen kommen damit nicht zurecht. Jetzt kommt die Getränkeindustrie und sagt: Wir müssen das Wasser für unsere Getränke so weit verdünnen, bis die Rückstände nicht mehr messbar sind – gleichzeitig sollen wir Wasser sparen. Wie soll das gehen? Das ist eine Debatte, die in der Gesellschaft geführt werden muss: Mehr Investitionen in Kläranlagen oder weniger Hormone in den Medikamenten?

Aber die Ökodebatte ist tot. Über Umwelt redet in Zeiten der Eurokrise niemand mehr.
Doch, die Debatte heisst nur anders: Gesundheit. Gerechtigkeit. Lebenshaltungskosten. Ich glaube, eine Menge Männer würden sich für Hormone in der Pille interessieren, wenn deren Rückstände in ihrem Bier auftauchten. Und ob es uns gefällt oder nicht: Viele junge Leute in Europa werden in Zukunft nicht das Geld haben für ein eigenes Auto, ein eigenes Haus und all die Insignien des Konsums. Sie ziehen aufs Land, weil das Leben dort billiger ist. Sie werden sich anders ernähren und bewegen, weil sie sich unsere Art von Essen, Autofahren und Fliegen nicht mehr leisten können.

Wir haben uns in einem Kokon eingerichtet und uns nicht darum gekümmert, wo der Strom herkommt. Die nächsten Generationen werden sehr wohl wissen, woher ihr Essen kommt und wie viel das Wasser kostet. Der Markt wird einen Preis für diese Güter liefern.

Europa gibt ja gern damit an, es sei der Vorreiter des grünen Denkens in der Welt. Ist der Ruf verdient?
Europa ist engagiert, wenn es darum geht, Umweltpolitik in Gesetze zu giessen. Wir sind keine Vorreiter bei den Investitionen, die diese Gesetze eigentlich nach sich ziehen müssten. Länder wie China überholen uns, wenn es darum geht, Geld in grüne Technologien zu stecken. Trotzdem hat Europa immer noch den Schlüssel in der Hand, Technologie nicht nur zu entwickeln, sondern sie auch durchzusetzen und in einem Verbund wie etwa einer ganzen Stadt anzuwenden. Und wir sind noch im Vorteil bei der Effizienz des Ressourceneinsatzes.

Europa ist ja auch stolz darauf, in jedem grossen Vertrag das Vorsorgeprinzip zu verankern. Ihre Studien aber zeigen, dass das bisher nur beim Ozonloch angewandt wurde. Ansonsten Fehlanzeige.
Deswegen sind diese Fallstudien so wichtig. Sie zeigen: Die Schäden sind so hoch, dass sich Vorsorge immer gelohnt hätte. Wenn wir uns wirklich an das Vorsorgeprinzip gehalten hätten, hätten wir viele Tote und viele verseuchte Gegenden vermieden. Wir geben jetzt unglaublich viel Geld aus, um diese vermeidbaren Kosten zu beseitigen. Die Bekämpfung der Luftverschmutzung in Europa kostet bis zu 170 Milliarden Euro im Jahr, jährlich sterben daran zusätzlich 250 000 Menschen, wie Studien der WHO zeigen. Und die schlimmsten Verschmutzer sind gerade mal 200 Fabriken von mehr als 10 000 in ganz Europa. Da muss man die Daten veröffentlichen und diskutieren, ob es nicht ökonomisch günstiger wäre, diese Betriebe zu schliessen. Wir müssen über reale Gefahren reden und nicht über theoretische Risiken. Die Ökonomie der Gefahren muss Teil des normalen Geschäfts sein.

In Ihrer Bilanz des Vorsorgeprinzips beschreiben Sie die Lage mit den Begriffen «aussergewöhnliche Hybris», «soziale Spaltung» und «Beweihräucherung von Reichtum».
Der Punkt ist: Wenn wir die Lektion nicht lernen, dann können wir ein weiteres Jahrzehnt verlieren. Mein Nachfolger könnte in zehn Jahren hier sitzen und Ihnen von den gleichen Problemen erzählen. Wir haben in Europa seit fast siebzig Jahren eine aussergewöhnliche Periode des Friedens. Einige meinen, wir hätten sie vergeudet. Wir haben es nicht geschafft, wirklich die Veränderungen in der Gesellschaft durchzusetzen, wirklich das Gemeinwohl neu zu definieren. Es kann doch nicht sein, dass wir überflüssige Produkte für den kurzfristigen Gebrauch herstellen, die in der Umwelt oder an unserer Gesundheit Schaden anrichten. Oder dass wir in grossem Massstab wertvolle Rohstoffe auf die Deponie werfen.

Was lässt Sie annehmen, wir könnten diese Lektion lernen?
Ich sehe Fortschritt in der akademischen Welt und in der Wissenschaft. Ausserdem gibt es heute viele junge Leute, die es schwer haben, einen Job zu finden. Diese Leute betrachten die Probleme aus einer ganz anderen Warte. Die hellsten Köpfe konzentrieren sich auf kleine Firmen. Die können wir besser schützen, und wir können ihnen Vernetzung ermöglichen. Wir müssen darüber reden, ob wir die Subventionen für die grossen oder für solche kleinen Firmen ausgeben wollen.

Wenn Sie Subventionen umlenken wollen, treffen Sie schnell auf Widerstände. Da sind wir wieder bei den Lobbys.
Machen Sie den Fluss der Subventionen öffentlich! Dann können Sie dieses Problem lösen. Lassen Sie die Leute und die Firmen um die staatlichen Hilfen wetteifern. Mit einem kleinen Teil der Subventionen für die grossen Energiekonzerne könnte man sehr viele kleine Unternehmen unterstützen, die die Wirtschaft in eine völlig andere Richtung bringen. Die Regeln der Europäischen Union sind nicht in Stein gemeisselt. Bei der Debatte, wie wir auf den Wandel reagieren sollen, gibt es keine heiligen Kühe.

Warum beruft sich die EU nicht auf das Vorsorgeprinzip, um die Lobbys auszuhebeln?
Oft lautet die Taktik der Bremser: Wir brauchen mehr Forschung. Das freut die Lobbys und auch die Wissenschaft, die davon profitiert. Aber es verhindert das rechtzeitige Handeln. Deswegen müsste es eine unabhängige Behörde geben, und das könnte die EEA sein, die klärt: Wie hoch ist der Preis, wenn wir einen Stoff aus dem Verkehr nehmen, weil es Hinweise gibt, dass er gefährlich ist? Wie hoch ist der Preis, wenn wir ihn nicht aus dem Verkehr nehmen und wir Opfer zu beklagen haben?

Was ist das nächste Asbest, also die nächste Technologie, die wir jetzt einzusetzen beginnen, ohne die Schäden abzusehen?
Das wird die Nanotechnologie sein. Wenn Materialien so klein werden, dass sie alle körperlichen Grenzen überwinden können, dann müssen wir extrem vorsichtig sein. Es gibt ausserdem einzelne Chemikaliengruppen, die sehr gefährlich sind.

Was kann die EU tun?
Sehr viel. Wir müssten zum Beispiel die öffentlichen Ausgaben für die Erforschung von Risiken bei neuen Technologien umleiten. Die EU ist gerade dabei, mit «Horizon 2020» das grösste jemals finanzierte europäische Investment in Wissenschaft und Forschung für achtzig Milliarden Euro zu verabschieden. Bisher gehen davon 99 Prozent in die Produktforschung und ein Prozent in die Risikoanalyse. Wenn man da ein paar Prozent verschiebt, kann das sehr viel verändern. Und wir können in zwanzig Jahren eine Menge Geld sparen.

Vorsorgeprinzip : Bittere Erkenntnis

Die kanadische Marinebiologin und Umweltinformatikerin Jacqueline McGlade (58) leitet seit 2003 die Europäische Umweltagentur (EEA) in Kopenhagen. Zum Abschluss ihrer Amtszeit Ende Mai kann sie sich noch über einen Teilerfolg freuen: Ende April machte das EU-Parlament den Weg frei für das vorläufige Verbot von Pestiziden, die für das Bienensterben in Europa mitverantwortlich gemacht werden.

Auch die Schweiz will den Einsatz dieser Neonicotinoide ab Herbst 2013 verbieten – zur Empörung des Agromultis Syngenta, der mit dem Neonicotinoid Thiamethoxam bislang gute Geschäfte gemacht hat. Die wissenschaftlichen Grundlagen für ein Verbot fehlten, so der Konzern in einer Medienmitteilung.

Das sieht die EEA anders: «Viele Leben wären gerettet und viele Schäden für Ökosysteme verhindert worden, wenn das Vorsorgeprinzip bei gerechtfertigtem Anfangsverdacht angewandt worden wäre», so die obersten europäischen UmweltschützerInnen in ihrer umfassenden aktuellen Studie «Späte Lektionen aus frühen Warnungen». Das Vorsorgeprinzip gründet in der Idee, bereits Massnahmen zu ergreifen, bevor sich irreversible Schäden für Mensch und Umwelt zeigen – und zwar ausdrücklich auch in Fällen, in denen keine schlüssigen wissenschaftlichen Beweise vorliegen. Es ist auch im Schweizer Umweltrecht verankert.

In ihrer Studie zeigen die ExpertInnen der EEA anhand von rund zwei Dutzend Beispielen aus der Chemie-, Verkehrs-, Energie- und Hightechindustrie auf, wie wenig alle Bekenntnisse zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise in der Realität wert sind. Von der Durchsetzung des Vorsorgeprinzips sind Politik und Wirtschaft in der ganzen Welt weit entfernt.