Giftstoffe: «Wir sind in einem Teufelskreis gefangen»

Nr. 36 –

Nach dem Fleischskandal im Kanton St. Gallen erklärt die Ökotoxikologin Alexandra Kroll das Problem mit den schädlichen PFAS-Stoffen. Es geht längst nicht nur um tierische Lebensmittel.

zwei Würste in einer Plastikverpackung liegen im Gras
Vom Boden ins Tier und in die Wurst – doch auch in Verpackungen 
sind PFAS ­allgegenwärtig.

WOZ: Frau Kroll, Chemikalien aus der sogenannten PFAS-Gruppe sind schädlich für Mensch und Umwelt. In der Schweiz gelten seit August strengere Höchstwerte für PFAS in tierischen Lebensmitteln. Im Kanton St. Gallen musste letzte Woche bereits Fleisch von fünf Bauernbetrieben aus dem Verkauf genommen werden, weil es die Grenzwerte bis um das Vierzigfache überschritt. Hat Sie das überrascht?

Alexandra Kroll: Nein, überhaupt nicht. Mittlerweile gibt es mehrere Studien, die zeigen, dass die PFAS-Konzentrationen in den Böden mit den Konzentrationen in Tieren korrelieren. Eine Untersuchung in Deutschland hat das am Beispiel von Wildschweinen nachgewiesen. Es gilt aber auch für Fische: Sie nehmen PFAS in ähnlichem Ausmass auf, wie sich diese im Gewässer befinden.

Das heisst, wenn man misst, findet man auch was.

Das ist in der Regel so, ja. Ob die Grenzwerte auch in anderen Gebieten der Schweiz so weit überschritten werden wie in St. Gallen, lässt sich kaum abschätzen. Was man aber weiss: PFAS finden sich mittlerweile überall in Böden und Gewässern. Und das nicht nur in der Schweiz. Es ist ein globales Problem.

Wie konnte es so weit kommen, dass PFAS überall in der Umwelt vorkommen?

Einerseits ist es ein historisch gewachsenes Problem: Diese Stoffe werden seit Jahrzehnten in die Umwelt eingebracht. Über industrielle Abwässer in Kläranlagen etwa oder über Klärschlamm, den man in der Landwirtschaft als Dünger ausbringt – was in der Schweiz seit 2006 verboten ist. Oder über die Verbrennung von PFAS-haltigen Abfällen, also über Luft und Regen. Darüber hinaus werden PFAS mit Pestiziden in der Landwirtschaft nach wie vor auch direkt auf die Böden verspritzt. Und nicht zuletzt kommen sie in einer Vielzahl von Kunststoffen vor, sind also eng verknüpft mit dem Problem des Mikroplastiks.

Die Ökotoxikologin

Alexandra Kroll (43) hat Pflanzenphysiologie studiert und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Risikobewertung am Ökotoxzentrum in Dübendorf.
 

Portraitfoto von Alexandra Kroll

Und wie kommen PFAS bis an den Nordpol oder in den Himalaja?

Das hat mit Wind und globalen Wasserkreisläufen zu tun, aber auch mit den weltweiten Warenströmen. Und weil die Regulierungen von PFAS so unterschiedlich sind, werden einzelne Stoffe, die in der Schweiz oder in Europa schon längst verboten sind, trotzdem weltweit in die Umwelt verteilt.

Und dort werden sie kaum abgebaut.

Ironischerweise wird genau die Eigenschaft, die diese Stoffe in der Anwendung so praktisch macht – sie sind hitzebeständig, wasserfest oder fettabweisend –, zum Problem für die Umwelt. Ein zusätzliches Problem ist ihre Bioakkumulation: Sie reichern sich in der Nahrungskette an. Besonders in tierischen Produkten wie Fisch, Fleisch, Milch und Eiern können PFAS-Konzentrationen erhöht sein. PFAS werden auch über die Muttermilch weitergegeben. Aktuell wird ihr Nutzen noch höher eingeschätzt als die Risiken, die mit der Aufnahme von PFAS verbunden sind.

Wie steht es um das Trinkwasser? Eine Untersuchung des Verbands der Kantonschemiker:innen hat letztes Jahr die PFAS-Rückstände im Trinkwasser gemessen und erklärt, es gebe keinen Handlungsbedarf. Nimmt man statt der Schweizer Grenzwerte aber die strengeren von Dänemark, wäre jede vierte Trinkwasserquelle hierzulande zu stark belastet.

Das ist so. Die Sache mit den Grenzwerten ist enorm kompliziert, dazu muss ich etwas ausholen. Das Grundproblem ist, dass es Tausende verschiedene PFAS-Stoffe gibt. Und aus der Sicht der Gewässertoxikologie sehen wir, dass sie total schwierig klassifizierbar sind, weil verschiedene Organismen zum Teil völlig unterschiedlich reagieren, und dies zudem je nach Stoff bei unterschiedlichen Konzentrationen. Nur wenige PFAS sind einigermassen gut untersucht – und selbst da gibt es noch diverse Datenlücken.

Gesundheitsrisiko PFAS

Die Gruppe der per- und polyfluorierten Alkylverbindungen (PFAS) umfasst über 10 000 Industriechemikalien, deren Verwendung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts exponentiell zugenommen hat. Als sogenannte Ewigkeitschemikalien reichern sie sich in der Umwelt wie auch in Organismen an und entwickeln sich so zu einer wachsenden Gefahr für die menschliche Gesundheit. Ihre steigenden Konzentrationen in Blut, Organen und Fettgewebe stören den Hormonhaushalt, setzen die Immunantwort herab, beeinträchtigen die Fruchtbarkeit und erhöhen das Krebsrisiko.

Die EU hat deshalb neue Höchstwerte für PFAS in Lebensmitteln erlassen, die die Schweiz übernommen hat. Doch sie gelten nur für tierische Lebensmittel wie Fisch, Fleisch und Eier, nicht aber für Milch. Neuste Untersuchungsdaten aus Europa zeigen, dass aufgrund von PFAS in Pestiziden auch Obst und Gemüse belastet sind, ebenso Grundnahrungsmittel wie Reis. Wir akkumulieren also nur schon beim Essen PFAS aus mehreren Quellen. Viele Menschen in Europa nehmen jede Woche 25 Mal mehr PFAS auf, als gesundheitlich tolerierbar wäre – so die Daten einer Untersuchung, die noch vor den strengeren Grenzwerten gemacht wurde. mei

Was bedeutet das für die Regulierung?

Vor wenigen Jahren hat die europäische Lebensmittelbehörde EFSA für ausgewählte PFAS neue Grenzwerte für den Konsum empfohlen, basierend auf einer epidemiologischen Studie, die schon länger bekannt war, deren Daten aber als nicht ausreichend galten. Sie zeigte eine toxische Wirkung von PFAS auf das Immunsystem von Kleinkindern. Die Existenz dieses Effekts konnte inzwischen erhärtet werden. Vergangenes Jahr hat die EU daraufhin die Grenzwerte gesenkt. Zwar weiss man nach wie vor nicht, was die Beeinträchtigung des Immunsystems durch PFAS langfristig für den Menschen bedeutet. Auffallend ist aber, dass die EU die Grenzwerte über die vergangenen Jahre mehrmals gesenkt hat, basierend auf neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Gibt es überhaupt einen «sicheren» Grenzwert?

Das ist schwer zu beantworten. Denn die Grenzwerte, die die EU-Kommission festlegt, basieren nicht allein auf der Toxizität, diese ist nur ein Faktor. Eine wichtige Rolle spielt auch der sogenannte Food Basket, die Frage also, welche Lebensmittel die Bevölkerung für eine gesunde Ernährung braucht. Berücksichtigt wird zudem, ob ein Grenzwert praktisch umsetzbar ist. Und auch wenn wir bestenfalls ganze PFAS-Gruppen beurteilen, bleibt es letztlich eine Einzelstoffbewertung. Dabei wissen wir schon lange, dass für den einzelnen Organismus, sei es ein Fisch oder ein Mensch, die Mischung relevant ist. In der Bewertung und der Regulierung wird das aber noch immer nicht berücksichtigt.

Das klingt, als gehe es letztlich darum, die Weiterverwendung von PFAS zu legitimieren.

PFAS sind in unserem Alltag extrem verbreitet, von der Bauindustrie über elektronische Geräte bis zu Konsumgütern. Vor allem aufgrund ihrer Verwendung in Plastik und beschichteten Verpackungen sind sie quasi allgegenwärtig.

Aber macht sie das auch unentbehrlich?

Es bedeutet, dass man für alle Anwendungen erst einmal Alternativen finden muss, und das ist ein langer Prozess. Wir könnten unser Leben aber nicht wie bisher weiterführen, wenn wir von heute auf morgen auf diese Stoffe verzichten müssten. Es ist in erster Linie also eine gesellschaftliche Frage: Wie wollen wir leben? Und natürlich auch: Wie viel Druck machen wir, damit sich etwas ändert?

Selbst die europäische Chemikalienagentur ECHA erwägt mittlerweile ein Verbot von PFAS.

Ob das realisierbar wäre, kann ich nicht einschätzen, weil ich keine Expertin für die verschiedenen Anwendungen bin. Persönlich würde ich unterscheiden und priorisieren wollen: Kommt ein Stoff nur in einem geschlossenen Kreislauf zur Anwendung, der Mensch und Umwelt nicht tangiert, oder wird er direkt in die Umwelt ausgebracht? Im letzteren Fall besteht definitiv dringender Handlungsbedarf.

Also: verbieten?

Es braucht meines Erachtens zumindest, wie es der ETH-Umweltchemiker Martin Scheringer schon lange fordert, eine Neubewertung und -gewichtung der Zulassungskriterien. Im Fall der PFAS sollte ihre Persistenz in der Umwelt entscheidend sein. Damit man dann auch argumentieren kann, dass man Stoffe, die sich nicht abbauen, nicht in der Umwelt haben will. Persönlich bin ich deshalb absolut mit Martin Scheringer einverstanden: Die Gesellschaft muss dringend ein Bewusstsein dafür entwickeln, was wir uns mit PFAS für ein Problem geschaffen haben.

Wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf?

Bei den Stoffen, die wir im Alltag verwenden und dadurch ständig einen Eintrag in die Umwelt verursachen, denen wir also auch täglich ausgesetzt sind. Das betrifft etwa beschichtete Lebensmittelverpackungen oder Funktionskleidung, bei der es bereits gute Alternativen gibt. Grundsätzlich ist schon viel gewonnen, wenn man im Alltag versucht, auf alles zu verzichten, was mit Plastik verknüpft ist. Aber wir sind sprichwörtlich in einem Teufelskreis gefangen. Selbst die Membranen der Filter, die zur Aufbereitung des Trinkwassers verwendet werden, sind aus PFAS. Auch die Ökotoxikologieforschung ist abhängig von PFAS-haltigen Materialien. Würden sie alle verboten, könnten wir unsere Labors wahrscheinlich dichtmachen.