Pestizide: Bis zum sauberen Trinkwasser ohne Pestizidrückstände ist es noch ein langer Weg
Abbauprodukte von Pestiziden verschmutzen vielerorts im Schweizer Mittelland das Grundwasser – ein massiver Verstoss gegen das Vorsorgeprinzip. Betroffen sind rund eine Million Menschen.
Die Karte, die ForscherInnen des eidgenössischen Wasserforschungsinstituts Eawag 2019 veröffentlichten, sah auf den ersten Blick harmlos aus: Unterschiedlich grosse Kreise in unaufgeregten Blau- und Grautönen waren darauf zu sehen, verteilt übers ganze Schweizer Mittelland.
Doch diese Karte zeigte die bislang genauesten Messdaten zu Verschmutzungen im Schweizer Grundwasser – und sie war ein Schock. Mithilfe einer neuen Messmethode hatten die ForscherInnen der Eawag in den Grundwasserproben nach neuen, potenziell gefährlichen Substanzen gesucht. Und sie fanden viel: Mehr als zwanzig verschiedene Abbauprodukte von Pestiziden wurden in den Proben gemessen, vielerorts in Konzentrationen, die ein Vielfaches über den gesetzlichen Grenzwerten lagen.
Ein Schock waren diese Resultate, weil achtzig Prozent des Trinkwassers in der Schweiz aus Grundwasser gewonnen werden – ohne dass dieses vorher aufwendig gereinigt werden muss. Durch einfache Filtriermethoden oder Desinfektion soll es Trinkwasserqualität erreichen. Die Pestizidabbauprodukte, die die Eawag-ForscherInnen fanden, lassen sich aber kaum mehr aus dem Grundwasser herausfiltern.
Es handelt sich dabei um zwei Abbauprodukte von Chlorothalonil. Dieses Fungizid wurde in der Schweiz knapp fünfzig Jahre lang in grossen Mengen eingesetzt, um Kartoffeln, Gemüse und Getreide, aber auch Weintrauben oder Golfplätze vor Pilzbefall zu schützen. Ein Chlorothalonil-Abbauprodukt wurde an fast allen Messstellen, das andere sogar an allen Orten gefunden, die die Forschenden untersucht hatten. Juliane Hollender, Abteilungsleiterin an der Eawag, war nicht sehr überrascht von den Funden: Bis vor kurzem wurden in der Schweiz noch bis zu 65 Tonnen chlorothalonilhaltige Pestizide pro Jahr verkauft.
Studien zeigen, dass Chlorothalonil in hohen Konzentrationen bei Nagetieren Tumore verursachen kann. Die EU stufte das Pestizid 2018 darum als «wahrscheinlich krebserregend für den Menschen» ein. Die Schweizer Behörden schlossen sich dieser Beurteilung an und verboten Chlorothalonil ab Januar dieses Jahres. Damit wurden auch die Abbauprodukte als problematisch eingestuft.
Mangelhafte Bewilligungspraxis
Wie viele andere Pestizide ist der Wirkstoff Chlorothalonil chemisch so konstruiert, dass er zuerst auf den Pflanzen kleben bleibt und Pilzsporen an ihrer Oberfläche abtötet. Doch mit der Zeit bauen Mikroorganismen die Chemikalie um, sodass sie wasserlöslich wird, vom Regen abgewaschen wird und immer tiefer in den Boden versickert – bis ins Grundwasser. Die filternde Wirkung des Bodens versagt bei den Abbauprodukten von Chlorothalonil.
Wie sich ein chemischer Wirkstoff genau verhält, müsste eigentlich genau geprüft werden, bevor die entsprechenden Spritzmittel tonnenweise ausgebracht werden. Doch die Daten zum Umweltverhalten gelten in der Schweiz als Geschäftsgeheimnis der Pestizidhersteller und sind nicht öffentlich einsehbar. Und das ist nur ein Kritikpunkt am Zulassungsverfahren. Ende 2019 benannte das Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG in einem Bericht im Auftrag des Bundesrats mehrere schwerwiegende Mängel in der Bewilligungspraxis: Die Zulassung durch das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) sei zu wenig unabhängig, es fehle an Transparenz, und Bedenken zum Umweltverhalten von Pestiziden würden zu wenig gewichtet. Das BLW versprach, Verbesserungsvorschläge auszuarbeiten. Diese liegen jedoch immer noch nicht vor.
Chlorothalonil ist nicht das erste Pestizid, dessen problematische Spuren erst nach jahrzehntelanger Anwendung in der Umwelt nachgewiesen werden. 2012 wurde das weitverbreitete Herbizid Atrazin verboten, weil auch es und einige seiner Abbauprodukte bis ins Grundwasser vordrangen. Doch noch heute werden Rückstände dieser Unkrautvernichtungsmittel im Grundwasser nachgewiesen, weil Atrazin kaum auf natürlichem Weg abgebaut wird.
Umweltorganisationen, aber auch verschiedene kantonale Ämter, die die Qualität des Trinkwassers überwachen, warnen schon seit Jahren: Ein Pestizid erst dann zu verbieten, wenn es im Grundwasser gemessen werde, sei zu spät. Kurt Seiler, Leiter des interkantonalen Labors von Schaffhausen und der beiden Appenzell, sagt: «Chlorothalonil wurde mehr als vierzig Jahre lang eingesetzt, ohne dass wir wussten, dass wir im Grundwasser nach Rückständen davon suchen müssen. So etwas darf eigentlich nicht passieren.» Das Vorsorgeprinzip müsse stärker gewichtet werden, gerade bei der wichtigen Ressource Grundwasser.
Besser schützen oder teuer reinigen
Schätzungsweise eine Million SchweizerInnen beziehen aktuell belastetes Trinkwasser. Trinkbar sei dieses weiterhin bedenkenlos – auf diesen Standpunkt stellen sich Kantonschemiker, das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit, aber auch die Wasserforscherinnen der Eawag. Die Grenzwerte in der Schweiz seien bewusst tief angesetzt, um das Grundwasser besonders gut zu schützen. Denn die Grundwasserreserven spielen hierzulande eine wichtigere Rolle für die Trinkwasserversorgung als in unseren Nachbarländern.
Die Schweizer WasserversorgerInnen haben nun zwei Jahre Zeit bekommen, um etwas gegen die Chlorothalonil-Rückstände im Grundwasser zu unternehmen. Mancherorts kaufen sie Seewasser dazu, um zu verdünnen und so die Grenzwerte zu erfüllen. In manchen Kantonen, etwa Solothurn, gibt es aber kaum sauberes Wasser in der Nähe, das man zumischen könnte, sagt Rainer Hug, der als Grundwasserexperte für den Kanton arbeitet. «Wir müssen das Problem wohl oder übel vielerorts aussitzen und mit dem belasteten Wasser leben, das wir aktuell haben. Denn die Umsetzung von sinnvollen und nachhaltigen Lösungen dauert Jahre bis Jahrzehnte.»
Andernorts will man mit teurer Technik versuchen, das Problem zu lösen. Im Berner Seeland hat die Gemeinde Worben vergangenen November einen Kredit von 1,84 Millionen Franken gutgeheissen. Damit soll eine Umkehrosmose-Anlage gebaut werden, die in einem aufwendigen und kostenintensiven Verfahren die Verschmutzungen aus dem Grundwasser herausfiltern kann. Doch dabei fallen grosse Mengen an Abwasser an, von dem bis jetzt noch niemand weiss, wie es entsorgt werden soll.
Teure Anlagen zur Wasseraufbereitung bauen oder das Vorsorgeprinzip ernster nehmen: Eines von beidem muss geschehen, wenn die Schweiz ihr «Hahnenburger» langfristig behalten will.
Pestizide an der Urne
Am 13. Juni wird gleich über zwei Vorlagen abgestimmt, in denen es um Pestizide geht. Die Initiative «Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide» hat ein klares Ziel: «Der Einsatz synthetischer Pestizide in der landwirtschaftlichen Produktion, in der Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse und in der Boden- und Landschaftspflege ist verboten.» Ebenso dürfen keine Lebensmittel mehr importiert werden, die unter Einsatz von synthetischen Pestiziden hergestellt wurden. Edward Mitchell gehört zu den InitiantInnen.
Die Trinkwasserinitiative (TWI) setzt dagegen bei der staatlichen Unterstützung für die Landwirtschaft an: Betriebe sollen nur Direktzahlungen erhalten, wenn sie auf Pestizide und prophylaktische Antibiotika verzichten sowie «einen Tierbestand» halten, «der mit dem auf dem Betrieb produzierten Futter ernährt werden kann». Verarbeitungsindustrie, Handel und KonsumentInnen kommen nicht vor, Importe auch nicht.
Die Grünen, Greenpeace und Pro Natura plädieren für zweimal Ja. Die bäuerlichen Organisationen Demeter Schweiz, Uniterre und Kleinbauern-Vereinigung unterstützen nur die Initiative gegen synthetische Pestizide. Bio Suisse hat die Parolenfassung zur TWI auf den Frühling verschoben.