Fussball und andere Randsportarten: Die Urform menschlichen Strebens

Nr. 28 –

Wieso Velofahren archaischer ist als Schwingen oder Boxen.

Es war ein heisser Sommernachmittag an einer Autobahnraststätte im Süden Frankreichs. Sämtliche Regionalzeitungen am Kiosk hatten ihre Frontseiten den Ereignissen der Tour de France gewidmet. Auf dem Parkplatz standen eine Menge Autos mit aufgemalten Sponsorenlogos. Tags zuvor hatte das grösste Radrennen der Welt in Montpellier haltgemacht, und nun fuhren die Profis durch den trockenen Midi den Pyrenäen entgegen. An der Café-Bar der Autobahnraststätte unterhielten sich holländische, spanische und belgische JournalistInnen mit Einheimischen über taktische Finessen. In offenen Wagen, ihre Laptops auf dem Schoss, tippten manche ReporterInnen ihre Geschichten zur Etappe, die noch gar nicht zu Ende war. Über Funk und per Mobiltelefon wurden sie von KollegInnen an der Rennstrecke über jeden Fluchtversuch und jeden Zwischensprint sofort informiert.

An allen Ecken herrschten hektische Betriebsamkeit und freudige Anspannung. Die ganze Szenerie war ein wenig surreal, weil an diesem verlorenen Ort bei der Autobahn weit und breit kein Velofahrer zu sehen war. Doch ein Teil des Trosses von BerichterstatterInnen und ExpertInnen hatte diese Raststätte aufgesucht, weil sich von dort aus gut arbeiten liess oder weil sie eine Pause brauchten.

Zufällig war ich an diesem Ort gelandet und ebenso zufällig kam ich mit einem welschen Belgier ins Gespräch. Wie er noch Freude am Radsport haben könne, nach all den Skandalen und Dopinggeschichten, die in den letzten Jahren aufgeflogen sind, fragte ich ihn. «Le Tour, c’est le Tour!», klärte er mich auf. Dieses Rennen sei immer viel grösser als alle seine Skandale. Die Geschichte der Tour de France werde halt von Menschen geschrieben, von unvergesslichen Athleten und von solchen, die ihre Gesundheit und ihren guten Ruf aufs Spiel setzen, um ins Ziel zu kommen. Das sei das Einmalige am Radsport, dass er sich immer an der Grenze der menschlichen Leidensfähigkeit und an der Grenze der Legalität bewege. Die Heldengeschichten, die an der Tour geschrieben worden seien und immer wieder geschrieben würden, könne kein Doping der Welt je kaputt machen. «C’est le cyclisme!», rief er immer wieder und sprach von Coppi, Bartali, Merckx, Ocaña, Hinault, Fignon, Van Impe, Induráin, Pantani und vielen, vielen anderen Heroen und gefallenen Engeln, die dieses Rennen schon hervorgebracht habe. Selbst Lance Armstrong vergass der Belgier nicht zu erwähnen: «Un tricheur, bien sûr, mais à la fois un coureur incomparable!» (Ein Trickser, sicher, aber gleichzeitig ein unvergleichlicher Radrennfahrer!)

Während ich dem Belgier zuhörte und die Geschäftigkeit um mich herum beobachtete, bekam ich eine Ahnung davon, was den Radsport von jedem anderen Sport unterscheidet.

Velofahren ist archaischer als Schwingen oder Boxen, weil wir Menschen das Zappeln mit den Füssen beherrschen, bevor wir zulangen können. Trampeln ist die Urform menschlichen Strebens. Es gibt keinen andern Sport, der wie das Radfahren alle sozialen Schichten gleichermassen bewegen kann. Die Weisheit des Radsports lässt sich nicht an Schulen lernen. Es ist im Wortsinn eine Weisheit der Strasse. Das Einteilen der Kräfte, das optimale Ausnutzen der jeweiligen Rennsituation, das rasche Erfassen eigener und fremder Schwächen und Stärken, das richtige Einschätzen der Risiken bei Passabfahrten, das sind lauter Fähigkeiten, die sich RadrennfahrerInnen nur im Rennen aneignen können. Dazu kommt, dass es wohl keine Sportart gibt, in der Taktik, Hierarchien und ungeschriebene Gesetze eine dermassen wichtige Rolle spielen wie bei den Velorennen.

All jenen, die sich wundern, dass der Radzirkus trotz all der in den letzten Jahren aufgedeckten Skandale noch immer so beliebt ist, sei ein Besuch an einem Radrennen empfohlen. Manchmal genügt es sogar, zufällig in die Nähe eines Rennens zu geraten.

Pedro Lenz (48) ist Schriftsteller und lebt in Olten. Seine erste Velosporterinnerung ist 
eine Etappendurchfahrt der Tour de Suisse 
vor seinem Elternhaus im Jahr 1970.