«Dystopia Stalker»: Kunst im Versicherungszeitalter

Nr. 29 –

Es ist eine perfekte Inszenierung: Ein Kunstwerk, das die Rolle von Zerstörung und Vandalismus in unserer Gesellschaft zum Thema macht, wird seinerseits von Vandalen heimgesucht.

«Dystopia Stalker» heisst das Werk, das der Künstler Lori Hersberger am Zürcher Paradeplatz installiert hat. Es ist ein Pavillon aus zehn eingefärbten Sicherheitsscheiben, die Hersberger selbst gezielt im Voraus mit Hammerschlägen beschädigt hat. Die Scheiben sind seit Anfang Juni schon dreimal von fremder Hand weiter malträtiert worden.

Was hat die Kunst im öffentlichen Raum nicht schon alles erdulden müssen. Unverständnis, Häme, gar Feindseligkeit. Von Tinguelys Fasnachtsbrunnen in Basel bis zum Hafenkran an den Gestaden der Limmat ist sie anfänglich heftig attackiert worden.

Einst war die öffentlich sichtbare Kunst Herrschafts-, dann Repräsentationskunst. Diese Funktionen hat sie eingebüsst. Jetzt bewegt sie sich, wenn sie sich aus der Sicherheit des Museums wagt, im Freien des Markts, der Medien und der verunsicherten staatlichen Kulturpolitik.

Wenn die Kunst im Öffentlichen auftritt, ist sie vorerst ein Zusatz, ein Anhängsel. Dem Funktionalen, dem Konsum gehört sie nicht an. Sie will ja auch das Widerständige sein, das Besondere. Dennoch muss sie sich im öffentlichen Raum als dessen Teil behaupten. So muss das Besondere ein Teil des Alltags werden.

Gelegentlich schafft die künstlerische Irritation den Übergang zur Provokation. Bei Hersbergers Werk hat die Provokation doppelt funktioniert. Sie hat andere zur eigenen Ausdrucksform erregt: spontane Steinwürfe oder Fusstritte des Publikums statt künstlerisch kalkulierter Hammerschläge. Und sie hat Medienaufmerksamkeit erregt.

Hersberger hat mit Reaktionen auf seine «Dekonstruktion» gerechnet, aber einige Nachtbuben sind ihm dann doch zu weit gegangen. Und es stellt sich die Versicherungsfrage: Wer zahlt in unserem Nachtwächterstaat, wenn sich jemand an einer Scherbe schneidet, die unvorschriftsgemäss aus einer Scheibe gefallen ist?

Nächstens steht vielleicht ein Securitas-Wächter auf dem Paradeplatz und bewacht sorgfältig eingeschlagene Fensterscheiben. Er verkörpert dann die Repression, mit der die Gesellschaft auf Grenzüberschreitungen reagiert. Echt. Oder vielleicht doch als Kunst.