Türkei: Auf die harte Tour ins Abseits
Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan lässt immer heftiger prügeln – so sehr steckt er in der Klemme. Denn seine KritikerInnen von der Taksim-Solidarität lassen nicht locker.
Es war wie bei einem Schlag gegen al-Kaida: Am Dienstag im Morgengrauen stürmten Antiterroreinheiten in neunzehn Istanbuler Stadtteilen die Wohnungen von hundert AktivistInnen der Taksim-Solidarität (Taksim Dayanisma). 30 Personen wurden festgenommen. In Izmir sitzen bereits 37 in Haft. Die meisten sind wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung angeklagt worden, sogar von der «Vorbereitung eines Putschs» ist die Rede. Ihnen drohen mindestens zehn Jahre Gefängnis.
Hässliche Schikanen
Es war nicht die erste Polizeiaktion dieser Art gegen die Protestbewegung in der Türkei. Trotzdem waren auch am vergangenen Wochenende wieder einige Tausend in Istanbul, Ankara und Hatay auf der Strasse. Anlass für den Protest war die Verhaftung führender Mitglieder der türkischen Vereinigung der Ingenieure und Architekten, die die Taksim-Solidarität unterstützt. Die Festgenommenen beklagten sich auch über hässliche Schikanen und Misshandlungen in Polizeigewahrsam. So seien der Präsidentin der Istanbuler Architektenkammer, Mücella Yapici, die an Diabetes erkrankt ist, ihre Medikamente erst nach Stunden zurückgegeben worden.
Schon am 20. Juni hatte der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan vor seiner Fraktion in Ankara den «Sieg» über die «gewalttätigen Chaoten» in Istanbul und Ankara ausgerufen – eine grobe Fehleinschätzung. Trotzdem: Der türkische Regierungschef will der neuen BürgerInnenbewegung nach wie vor «auf die harte Tour» beikommen, so wie bisher noch jede Regierung in Ankara gegen missliebige Proteste vorging – mit einer Eskalation staatlicher Gewalt, mit Angst und Einschüchterung. So soll der zivile Protest an Rückhalt in der Bevölkerung verlieren.
ÄrztInnen, die verletzten DemonstrantInnen halfen, werden bedroht. Der Druck auf die Presse nimmt weiter zu. Der türkische Nachrichtensender NTV musste vor wenigen Tagen sogar eine Chronik der Ereignisse um den Gezipark in Istanbul aus dem Programm nehmen und im Internet entsorgen. Neben Gründungsmitgliedern der Taksim-Solidarität wurden auch Anwälte, Ingenieurinnen und Architekten festgenommen, die sich kritisch zu den Neubauprojekten der Regierung geäussert hatten. Darüber hinaus hat die AKP-Mehrheit im Parlament in aller Eile ein Gesetz verabschiedet, das der Architektenvereinigung künftig die Mitsprache an staatlichen Grossbauprojekten verbietet.
Erdogans absurde Angriffe
Das martialische Vorgehen zeigt auch: Tayyip Erdogan ist in die Defensive geraten wie noch nie in seiner politischen Laufbahn.
Seine absurden Angriffe auf ausländische Medien («Handlanger der internationalen Zinslobby, die das Land schwächen wollen») belegen: Er weiss, wie schwer ihm sein Krisenmanagement in den letzten Wochen im Ausland geschadet hat. Wer mag jetzt noch vom «Modell Türkei» reden? Erdogan wird künftig bei einer Auslandsreise nicht mehr nur als der Vertreter einer wirtschaftlich immer stärker werdenden Türkei empfangen werden. Selbst die Bewerbung Istanbuls für die Olympischen Spiele 2020 kann das beeinflussen.
Viel schwerwiegender noch trifft ihn der Ansehensverlust im Inland. Einer der bekanntesten Kommentatoren des Landes, Cengiz Candar, erklärte kürzlich in der Zeitung «Radikal»: «Wieso ich nun gegen Tayyip Erdogan bin». Cengiz Candar ist kein jugendlicher Hitzkopf, er ist 65 Jahre alt und war früher Berater von Erdogan. Obwohl er diesen Posten schliesslich aufgab, unterstützte er weiter viele Massnahmen der Regierung – und zwar immer mit demselben Spruch: «Evet – ama yetmez», «Ja, aber das ist noch nicht genug». Viele dachten bislang wie er: besser jetzt einen kleinen konkreten Schritt vorwärts als gar keinen.
Fünfzig Prozent Zustimmung für Erdogan? Das Wahlergebnis war nicht gefälscht, aber das waren nicht nur Stimmen von beinharten AKP-AnhängerInnen. Es war schon immer eine Koalition aus verschiedenen Gruppen der Gesellschaft, die die AKP-Regierung unterstützte oder tolerierte, weil es zu ihr keine Alternative gab. Dazu gehörten auch konservative Geschäftsleute und mächtige UnternehmerInnen, die den islamisch-konservativen Politikern in Ankara gegenüber immer kritisch distanziert blieben. Ihre erfolgreiche Wirtschaftspolitik honorierten sie mit Stillschweigen auf der politischen Bühne.
Aber nun droht auch noch der bislang unaufhaltsam scheinende wirtschaftliche Aufschwung wegzubrechen. Mit dem einst so engen Wirtschaftspartner Syrien hat sich Ankara krass verspekuliert. Schon vor einem Jahr setzte die türkische Regierung auf den raschen Zusammenbruch des Regimes von Baschar al-Assad. Der Sturz des ägyptischen Staatspräsidenten Muhammad Mursi kostet Erdogan ausserdem einen seiner wichtigsten neuen Verbündeten im Nahen Osten – und einen der bedeutendsten Handelspartner (Handelsvolumen: 5,2 Milliarden US-Dollar).
Die türkische Lira hat seit Anfang Mai gegenüber dem US-Dollar mehr als acht Prozent an Wert verloren. Die internationalen InvestorInnen erwarten steigende Zinsen in den USA – und ziehen ihr Geld aus vielen Schwellenländern ab. Die politisch unübersichtliche Lage am Bosporus verstärkt diesen Trend. Allein im Juni schafften AnlegerInnen innerhalb von vierzehn Tagen acht Milliarden US-Dollar aus der Türkei. Dabei ist die türkische Wirtschaft besonders auf Devisen angewiesen, um ihre negative Leistungsbilanz (mehr Importe als Exporte) auszugleichen.
Selbst die Einnahmen aus dem Tourismusgeschäft könnten dieses Jahr weit hinter den Erwartungen zurückbleiben, vor allem beim Städtetourismus in Istanbul. Nicht die All-inclusive-UrlauberInnen auf den Klubgeländen der Küste bringen die Devisen – es sind die Städtereisenden, die einkaufen gehen und im Restaurant speisen. Schon Anfang Juni blieben 80 000 Hotelbetten um den Istanbuler Taksimplatz leer, weil sich keine UrlauberInnen mehr durch dichte Tränengasschwaden kämpfen wollten.
Jede Woche tiefer gespalten
Alarmstimmung in Ankara: Der Regierungschef rief Anfang der Woche zu einer Krisensitzung in Sachen Wirtschaft. Die türkische Zentralbank warf in den letzten zwei Wochen 6,5 Milliarden US-Dollar auf den Markt, um den weiteren Verfall der türkischen Währung zu verhindern. Jetzt geht auch noch die Angst vor der Inflation wieder um. Dabei hatte sich der Regierungschef auf seinen Kundgebungen immer wieder damit gerühmt, er habe die horrende Inflation, die Ende der neunziger Jahre bei bis zu hundert Prozent lag, erfolgreich bekämpft.
Tayyip Erdogan weiss, dass ein wirtschaftlicher Abschwung seine Regierung ernsthaft gefährden könnte. Deshalb wettert er bei jeder seiner Reden gegen die «ausländische Zinslobby», die hinter der Protestbewegung gegen eine starke Türkei die Fäden ziehe. Ob es ein Zufall war, dass letztes Wochenende zum ersten Mal mit Knüppeln bewaffnete Händler und Restaurantbesitzer auf Demonstrantinnen und Journalisten losgingen? Wie aber soll in einem Land, das von Woche zu Woche tiefer gespalten wird, ein Konsens über eine neue Verfassung entstehen? Ohne eine neue Verfassung aber wird es auch keine Lösung der Kurdenfrage geben.
Foren unter freiem Himmel
Die AKP droht abzurutschen in das grosse Becken, in dem all die anderen abgehalfterten Parteien der Türkei rudern, deren Unglaubwürdigkeit einst den Aufstieg der AKP erst ermöglichte. Gleichzeitig beginnt sich die neue BürgerInnenbewegung zu organisieren. Mehrmals in der Woche finden etwa in fünfzig verschiedenen Istanbuler Stadtteilen abends unter freiem Himmel Versammlungen der Taksim-Solidarität statt. Jeder kann kommen, jede kann das Wort ergreifen. Besprochen wird, mit welchen Forderungen und wie sich die Taksim-Solidarität in sieben Monaten an den Kommunalwahlen beteiligen könnte. An manchen Abenden nehmen allein in Istanbul bis zu 10 000 Menschen an diesen Foren teil. Mehr als zwanzig solcher Foren gibt es auch in Ankara und weitere in fünfzehn anderen Städten. Sieben Ausgaben einer Internetzeitung der Taksim-Solidarität sind bisher erschienen. Überall entstehen Karikaturen, Aufkleber, Bildergeschichten und Slogans, alle bunt, lustig oder ironisch – eine Form der politischen Auseinandersetzung, die es am Bosporus noch nie gegeben hat.
Dabei wissen die meisten AktivistInnen der Taksim-Solidarität, dass dies allenfalls die ersten Meter auf einem langen Weg sind. Wohl deshalb hält sie die islamisch-konservative Regierung auch für so bedrohlich.