Türkei: Gesucht: Ein Königsmörder von Format
Anfang dieser Woche hat die türkische Regierung 350 Polizeibeamte strafversetzt. Der Machtkampf erreicht damit einen weiteren Höhepunkt.
2013 war kein gutes Jahr für den türkischen Regierungschef Tayyip Erdogan. In der Aussenpolitik ist das Projekt «Regionalmacht Türkei» krachend gescheitert. Ob im Irak, in Syrien oder Ägypten, im Libanon, in Israel oder Palästina – Ankara ist nicht erwünscht, spielt bestenfalls keine Rolle. Innenpolitisch tauchte eine neue Opposition auf, die Gezi-Bewegung genannt wird, weil sie im Istanbuler Gezipark begann. Und schliesslich rollt auch noch der grösste Korruptionsskandal in der Geschichte der Republik durchs Land. Der Regierungschef musste fast die Hälfte seines Kabinetts neu besetzen – es scheint, als habe Tayyip Erdogan die Kontrolle am Bosporus verloren.
Die EU zeigt sich besorgt, weil der türkische Regierungschef nun reihenweise Polizeioffiziere feuert und Staatsanwälte rumkommandiert. Jedoch: Es geht nicht um den Streit der Guten gegen die Bösen, um den Kampf des unbeugsamen Staatsanwalts gegen den Diktator, des unbestechlichen Polizisten gegen eine käufliche Regierung. Gewaltenteilung in der Türkei? Polizei und Justiz waren noch nie unabhängig. Hat sich die Polizei in den neunziger Jahren nicht auf Befehl des damaligen Innenministers an Tausenden von Morden im Südosten der Türkei beteiligt? Immerhin soll jener Minister dafür nun vor Gericht gestellt werden. Und die Justiz? Als die AKP mit grosser Mehrheit gewählt wurde, war fast jeder Richterspruch ein Versuch, deren Regierungsarbeit zu unterlaufen, denn die Justiz war fest in der Hand der abgewählten KemalistInnen. Selbst gegen Preiserhöhungen bei Busfahrkarten schritt die Justiz ein – und schliesslich sollte die Regierungspartei ganz verboten werden.
Tayyip Erdogan reformierte Justiz, Polizei und Armee – aber nicht im Sinn von mehr Demokratie oder Gewaltenteilung. Er hat dort lediglich selbst die Kontrolle übernommen – auch mithilfe der AnhängerInnen des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der im US-amerikanischen Pennsylvania residiert und mit dem er bis vor kurzem gut Freund war. Doch nun dirigiert dieser dank seines grossen Einflusses im Staatsapparat mit, und Erdogan weiss nicht, wie er ihn unter Kontrolle bringen soll. Also feuert oder versetzt er alle Gülen-Anhänger, die ihm bekannt sind. Es ist ein Kampf um die Macht im Staat.
2013 war also kein gutes Jahr für Erdogan. Und die schlechte Nachricht für ihn ist: 2014 wird voraussichtlich nicht besser.
Inzwischen gehen zwar «Friedensangebote» von Gülen ein – und die türkischen WählerInnen erfahren aus der Zeitung, dass der türkische Staatspräsident Abdullah Gül und der Regierungschef mit dem Prediger in den USA darüber verhandeln, wie die Staatskrise am Bosporus zu lösen sei. Aber kann Erdogan diese Krise meistern? Der Imageverlust im Ausland wird ihm dabei mehr zu schaffen machen als der im Inland. Die BürgerInnen der Türkei kennen Korruption, solange sie zurückdenken können. Unter Erdogan bekamen sie immerhin ein besseres Gesundheits- und Schulwesen, breitere, saubere Strassen, U-Bahn-Linien und eine Wirtschaft, die auch auf dem flachen Land florierte. Wo ist der, der das besser macht?
Die ausländischen InvestorInnen hingegen zweifeln inzwischen ernsthaft am Modell Türkei. Weltweit verlor 2013 kein Anleger so viel Geld wie der türkische Aktienbesitzer. Allein im Dezember stürzte die türkische Börse um fünfzehn Prozent ab. Die Türkei, so titelte vor wenigen Tagen das deutsche «Handelsblatt», sei ein «unsicherer Partner». Die privaten Auslandsschulden der TürkInnen liegen bei 250 Milliarden US-Dollar. Allein wegen des Verfalls der türkischen Währung haben sie seit kurzem dreissig Prozent mehr Schulden. Dazu steigen die Energiekosten, und die Inflation nimmt wieder zu. Der anatolische Mittelstand, die treue Basis der AKP – er steckt ernsthaft in der Klemme.
Das kann Erdogan zunächst bei den Kommunalwahlen im März Stimmen kosten. Die Wahlen wird er zwar gewinnen, verliert er aber fünf oder mehr Prozentpunkte gegenüber 2009, könnte es in seiner Partei noch unruhiger werden als jetzt schon. Niemanden würde es wundern, wenn dann plötzlich heikle Dokumente über Korruption in der Familie Erdogan auftauchten. Nicht einmal eine Spaltung der AKP scheint dann noch ausgeschlossen, sollte sich ein Königsmörder von Format finden.
Darüber könnte das Projekt «neue Verfassung» endgültig scheitern, die Lösung der sogenannten Kurdenfrage geriete damit ernsthaft in Gefahr – und Erdogans Plan, sich im August zum Präsidenten der Türkei wählen zu lassen, wäre Makulatur. «Es ist möglich, dass die politischen und sozialen Spannungen vor der Kommunalwahl und der Präsidentschaftswahl noch zunehmen», urteilt die Ratingagentur Fitch Anfang dieser Woche – mit der Folge, dass das Land schwerer als bisher Kredite auf den internationalen Finanzmärkten erhält. Nichts aber braucht die türkische Wirtschaft mit ihrem beunruhigend grossen Leistungsbilanzdefizit so dringend wie Geld aus dem Ausland.
Der Prediger in Pennsylvania kann den Tumult hingegen aussitzen. Er muss sich ja keiner Wahl stellen.