Türkei: Der Unterdrückte ist zum Unterdrücker geworden
Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan ist an die Grenzen seiner autoritären Herrschaft gestossen. Die Leute von oben herab führen zu wollen, funktioniert nicht mehr.
«Wir gehören zu den unterdrückten Schwarzen.» Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan braucht immer wieder solche Sätze. Auch in seiner Rede an der Massenkundgebung vom 16. Juni in Istanbul. Dort wollten er und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) unter dem Motto «Ehrerbietung vor der nationalen Souveränität» den wochenlangen Protesten der Strasse Paroli bieten. Erdogan gefällt sich in der Opferrolle. Gerne erzählt er, wie ihn einst die herrschende politische Justiz wegen eines Gedichts zu einer Gefängnisstrafe verurteilte; dass putschsüchtige Generäle versuchten, ihn aus dem Amt zu jagen.
In Erdogans Erzählung herrschte, bevor er an die Macht kam, eine kleine, säkulare politische Elite, die das Volk tyrannisierte: der Kemalismus, benannt nach dem Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk. Dieses Herrschaftsmodell, aufgebaut auf den Trümmern des Osmanischen Reichs, formte eine nationalistische Republik und verordnete die bürgerliche Modernisierung und Ideologie von oben herab.
Das Selbstverständnis Erdogans und seiner AKP deckte sich über lange Zeit mit der Wahrnehmung der türkischen Entwicklung im Ausland. Die AKP war Zeugnis, dass politischer Islam und Demokratie kompatibel seien: Eine konservativ-islamische Bewegung wurde zur politischen Reformkraft, gewann Wahlen und löste die repressive kemalistische Herrschaft ab, die bis dahin trotz Wahlen und Mehrparteiensystem über das Militär, das Verfassungsgericht und die politische Justiz die Gesellschaft im Würgegriff gehalten hatte.
Ausbesserungen zur eigenen Macht
Doch diese Legende ist passé: Wer nach der Gewaltorgie der vergangenen Wochen in Istanbul und in anderen Städten noch das reformerisch-demokratische Selbstverständnis der AKP preist, ist ein Zyniker. Der brutale Polizeieinsatz gegen zumeist friedliche DemonstrantInnen, der Tote, Erblindete und Tausende Verletzte zur Folge hatte, war von ganz oben angeordnet. Aus Erdogan, dem Unterdrückten, ist ein Unterdrücker geworden.
Es lohnt sich, genauer auf die Reformen der AKP in dem vergangenen Jahrzehnt zu schauen, in dem sie die absolute Mehrheit im Parlament gestellt und die Regierung gebildet hat: Die Türkei ist in dieser Zeit immer nur dann «demokratisch» ausgebessert worden, wenn Erdogan sich davon eine Verfestigung seiner Macht versprach. Institutionen wie das Militär und das Verfassungsgericht waren tatsächlich Bastionen antidemokratischer Kemalisten. Mit Verfassungsänderungen wurden sie der Regierung gefügig gemacht. Bei der politischen Justiz, die einst IslamistInnen, KurdInnen und Linke verfolgte, wurden die Köpfe ausgewechselt. Jetzt werden IslamistInnen nicht mehr verfolgt.
Der Kemalismus hatte ein ausgefeiltes Netz von antidemokratischen Machtinstrumentarien hinterlassen. Sie wurden unter der Herrschaft der AKP nicht zerschlagen, sondern mit ihr gefälligen Personen besetzt. So zum Beispiel die Hochschulbehörde, die jegliche universitäre Selbstverwaltung aus den Angeln hob. Ihre Abschaffung war in den frühen Jahren eine Forderung der AKP. Heute massregeln AKP-Männer in der Hochschulbehörde unliebsame Rektorinnen und Rektoren. Auch die Zehnprozenthürde für Parteien bei Wahlen, nach dem Militärputsch 1980 von den Militärs in die Verfassung geschrieben, wird heute von der AKP verteidigt, nachdem sie früher deren Abschaffung gefordert hat.
Das Parteiengesetz, ebenfalls eine Hinterlassenschaft der Militärs, ist darauf ausgerichtet, dass der Parteichef faktisch den Parteiapparat beherrscht. Er kann nach Gutdünken Verbände auflösen, missliebige parteiinterne KritikerInnen ausschalten und eigenmächtig die Liste der KandidatInnen für das Parlament aufstellen. Dieses Von-oben-nach-unten erklärt, warum unter den Abgeordneten der AKP kaum kritische Stimmen aufkamen.
Die Putschisten von 1980 und die Folgeregierungen haben stets das Schreckgespenst einer Bedrohung der Türkei durch innere und äussere Feinde an die Wand gemalt. Ausländische Geheimdienste wie CIA und Mossad würden Hand in Hand mit türkischen oder kurdischen Terroristen arbeiten. Die Härte gegen Oppositionelle wurde legitimiert, indem der Gesellschaft der Kriegszustand suggeriert wurde. Der faktische Bürgerkrieg in den kurdischen Provinzen kam da nur recht. Zuspruch erntete die AKP auch dadurch, dass sie sich diesen Verschwörungstheorien entzog und stattdessen ganz pragmatisch auf wirtschaftliches Wachstum setzte.
Nach der Revolte vom Istanbuler Taksimplatz und der Demokratiebewegung setzt Erdogan nun nicht nur auf die Repressionsinstrumente, die die Kemalisten hinterlassen haben. Auch das Vokabular ist der Vergangenheit entlehnt. Auf der Massenkundgebung in Istanbul wimmelte es in der Rede Erdogans nur so von «internationalen Verschwörern»: von der «Zinslobby», von CNN und Reuters; aber auch von türkischen «Handlagern»: von «Anarchisten», «Marodeuren» oder dem «Grosskapitalisten», der die Pforten seines Nobelhotels für ein Notlazarett für DemonstrantInnen öffnen liess. Und doch kam während seiner Rede keine Stimmung auf. Selbst der rhetorische Garantietreffer «Wir überlassen dieses Land nicht den Terroristen» verpuffte.
Politik – so wollten es die Kemalisten, die die Republik 1923 errichteten, ebenso wie die Militärs, die 1980 putschten – ist eine Sache, die von oben dirigiert wird. So wie Ingenieure Brücken konstruieren, sollten Auserwählte die Gesellschaft konstruieren. Diese Herrschaftsform kann eine Zeit lang gut funktionieren, insbesondere dann, wenn traditionelle ländliche Strukturen weitgehend unangetastet bleiben und die Ingenieursleistungen auf eine kleine städtische Gruppe, die sich um die populistische Macht gruppiert, beschränkt bleiben. In einer Gesellschaft jedoch, die der Kapitalismus durchdrungen hat, stösst diese Form der Herrschaft an ihre Grenzen. Was als Protest gegen ein Einkaufszentrum begann, das auf einem städtischen Park errichtet werden sollte, wurde binnen kürzester Zeit zu einer Bewegung, die die politische Herrschaft infrage stellt. Sie hat nicht nur die herrschende AKP getroffen, sondern ebenso die kemalistisch-sozialdemokratische Oppositionspartei CHP.
Oasen praktizierter Demokratie
Die Revolte auf dem Taksimplatz ist keine linke Erhebung, obwohl die InitiatorInnen unorthodoxe, libertäre Linke sind – Kinder säkularer, bürgerlicher Eltern, zumeist mit hohen Bildungsabschlüssen, wie erste repräsentative Untersuchungen belegen. Die Wut gegen die staatliche Intervention in Lebensweise und Lebenspraxis der Menschen war ein Motor der Mobilisierung. Gegen Deklarationen wie «Macht drei Kinder!», «Keine Geburten mit Kaiserschnitt!», «Das ist nicht Kunst, das ist ein monströses Denkmal, reisst es ab!», «Wer trinkt, ist Alkoholiker!», «Benehmt euch anständig in der U-Bahn, küsst euch nicht!».
Binnen kürzester Zeit ist ein breites Bündnis gegen Erdogan entstanden. Da kamen die Feministinnen, die Schwulen und Lesben, die GlobalisierungsgegnerInnen von den «antikapitalistischen Moslems», die Fussballfans, die sich nicht in Erdogans Reih und Glied einfügten, die Kinder von AKP-WählerInnen, GewerkschafterInnen, die alten linken Gruppen, PKK-AnhängerInnen und zuletzt auch die KemalistInnen. Es ist eine heterogene Bewegung, die schwer auf einen Nenner zu bringen ist und die schwer ein politisches Programm auf die Beine stellen kann.
Nach der blutigen Räumung des Taksimplatzes sind jetzt die schweigenden, regungslosen Männer und Frauen zu Symbolfiguren des Widerstands geworden. Sie stehen einfach da, als stummer Protest. Täglich werden zudem in Istanbuler Parks Foren abgehalten, die beraten, wie der Widerstand weitergehen soll. Es sind Oasen praktizierter Demokratie, wo Meinungsfreiheit herrscht und sich gegenseitig zugehört wird. Es ist eine ungeheure Befreiung für viele Jugendliche, einen Ort zu haben, wo man gemeinsam redet und entscheidet. Es ist das Antimodell zum Herrschenden, zur archaischen Politik, die Erdogan verkörpert. Diese Bewegung ist keine unmittelbare Gefahr für Erdogan. Doch sie trägt die Keime für eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft in sich.