Wirtschaftskrise: Manche meinen, die Krise sei ein kurzfristiges Problem

Nr. 32 –

Der US-amerikanische Starökonom James Galbraith besuchte die Krisenländer Griechenland und Portugal. Er schlägt dringende Massnahmen vor, um einen Zusammenbruch der EU abzuwenden.

Ökonom James Galbraith: «Es soll mir jemand ein Beispiel einer politischen Union nennen, die bestehen blieb, nachdem ein Teil von ihr verloren gegangen war.» Foto: Karin Dietsch

WOZ: Die Debatte über die derzeitige Wirtschaftskrise verläuft zwischen den Vertretern massiver Sparmassnahmen und sogenannten Keynesianern, die die Lösung in zusätzlichen Staatsausgaben sehen. Sie sprechen aber von falschem Keynesianismus …
James Galbraith: Ich hoffe, damit gewissen Leuten ein paar Nadeln unter die Haut zu stecken. Mit falschem Keynesianismus meine ich die irreführende, in meinen Augen fundamental antikeynesianische Vorstellung, die Aufgabe der Politik bestehe darin, die Wirtschaft zu stimulieren und sie damit aus ihrem gegenwärtigen Zustand wieder zu ihrem ehemaligen Wachstumspotenzial zurückzuführen. Diese Vorstellung vermittelt den irrtümlichen Eindruck, das volkswirtschaftliche Problem sei ein kurzfristiges und könne durch entsprechend kurzfristige Lösungen wie Ausgabenerhöhungen und Steuersenkungen behoben werden. Dies wiederum lenkt von den tatsächlichen Problemen ab.

Was fordern Sie?
Würde John Maynard Keynes noch leben, so würde er die Schwierigkeiten erkennen und die notwendigen Veränderungen der Institutionen ins Visier nehmen. Dazu gehören: eine Regelung des Schuldenproblems, dann eine Umstrukturierung des Bankensektors, neue Einrichtungen zur Arbeitsbeschaffung und ein gestärktes System umfassender Sozialversicherungen. All dies waren ja auch ungemein wichtige Bestandteile des New Deal – der Wirtschaftsreformen der USA in der Zwischenkriegszeit. Auch damals ging es nicht darum, Wachstum und Vollbeschäftigung wiederherzustellen – sondern vielmehr, sich dem weit brennenderen Problem zu stellen: die unmittelbare Katastrophe abzuwenden.

Vor der Finanzkrise hatten immerhin mehr oder weniger alle Menschen Arbeit.
In einer grossen Wirtschaftskrise wie der aktuellen passiert mit den Kapitalgütern zweierlei: Zum einen werden sie vernichtet, und zum anderen wird das bestehende Kapital durch arbeitssparende Technologien ersetzt. Die Folge davon ist, dass unsere bescheidenen Wachstumsraten nicht zu einer Erholung am Arbeitsmarkt geführt haben.

Glauben Sie, dass die Arbeit uns langsam ausgehen wird, wie das manche Ökonomen befürchten?
In den USA liegt der Anteil der Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie derzeit noch bei acht Prozent. Die meisten dieser Jobs werden bestehen bleiben, sie befinden sich in Bereichen, in denen die USA sehr wettbewerbsstark sind. Die übrige Wirtschaft umfasst mindestens 130 Millionen Beschäftigte. Ein grosser Teil davon ist in Büros, in der Informationsverarbeitung tätig. Weil die Unternehmen mit einem schwachen Wachstum kämpfen, stellen sie keine neuen Leute ein. Sie ersetzen teure Arbeitskraft durch billige Technologie.

Wird die Wirtschaft für diese Menschen neue Arbeitsplätze hervorbringen?
Ich glaube nicht, dass die Wirtschaft das von alleine tun wird. Wir sind es, die dafür sorgen müssen.

Sie glauben nicht, dass unsere Arbeitskraft überflüssig wird?
Nein. Alte Leute brauchen Pflege, dafür müssen junge Leute eingestellt werden. Allerdings glaube ich nicht, dass die Arbeit in allen Wirtschaftsbereichen mit Profit betrieben werden kann.

Sie sprachen davon, die Katastrophe abzuwenden …
Es geht darum, ein Auseinanderbrechen der Eurozone und der Europäischen Union zu vermeiden – dieser Moment könnte ziemlich bald kommen, falls nichts getan wird. Durch meinen kürzlichen Besuch in Griechenland sind meine Gedanken sehr viel klarer geworden: Warum will eine Regierung ein Gasmonopol verkaufen, wie das die griechische versucht hat? Die einzige Antwort ist: Weil sie sofort Bargeld braucht – und gleichzeitig nicht damit rechnet, lange am Ruder zu bleiben. Dabei wäre ein Gasmonopol ja eine Geldquelle, die dem Staat für die Zukunft ein ständiges Einkommen garantieren würde!

Nun aber, da sie das Gasmonopol nicht verkaufen konnten?
Daraufhin hat die Regierung im Juni mit einer Vorwarnung von sechs Stunden und ohne Parlamentsdebatte kurzerhand das staatliche Radio und Fernsehen abgestellt. Anscheinend, um so 200 oder 250 Millionen Euro einzusparen und damit eine willkürliche Forderung der EU nach Einsparungen zu erfüllen – und um zu zeigen, wie resolut sie ist. Dann aber hat das griechische Volk gesagt: «Jetzt reichts!» Einen direkten Angriff auf die zwar mangelhafte, aber doch einzige Einrichtung, die dem Land für den öffentlichen Diskurs zur Verfügung steht, wollte die Bevölkerung nicht akzeptieren. Die Journalisten übernahmen die Kontrolle über die Gebäude, die Gewerkschaften sorgten dafür, dass der Strom weiter fliesst – und das Volk stand draussen und beschützte sie. Es war fantastisch! Zugleich wurde aber auch sichtbar, wie nah man am Abgrund ist.

Europas Politik wird von Deutschland dominiert. Die SPD kritisiert zwar die Sparpolitik, doch ihr Programm geht nicht sehr weit …
Es gibt eine Tendenz zu denken: «Ach, Griechenland ist so weit weg – uns wird es nicht treffen, wenn das Land untergeht.» Doch es soll mir jemand ein Beispiel einer politischen Union oder Konföderation nennen, die bestehen blieb, nachdem ein Teil von ihr verloren gegangen war! Die Sezession des Südens der USA im Jahre 1860 wurde durch den Ausstieg South Carolinas eingeleitet; Jugoslawien zerfiel, nachdem Slowenien ausgetreten war; und die Sowjetunion fiel nach der Abspaltung des Baltikums auseinander, obwohl das im Vergleich zum Ganzen ein sehr kleines Gebiet war. Wenn erst einmal ein Stück eines Ganzen herausfällt, entstehen Prozesse, die unglaublich schnell ablaufen können.

Sie waren unlängst auch in Portugal. Wie sieht es dort aus?
Es gab kürzlich einen Generalstreik. Die Lage in Portugal ist sehr ernst; aber mein Eindruck ist, dass die sozialen Belastungen nicht so gross sind wie in Griechenland. Bricht das Ganze auseinander, dann wird Griechenland im Zentrum stehen. In einem zweiten Schritt würden Länder wie Portugal von einem Bankensturm betroffen sein.

Apropos Bankensturm: Die EU hat beschlossen, bei Bankenpleiten künftig auch die Einleger in die Haftung einzubeziehen. Welche Folgen wird das haben?
Mit dem Einlageschutz will man ja eine Situation vermeiden, in der es zu einer Panik und entsprechend zu einem Bankensturm kommt. Hierbei gibt es zwei Dinge zu bedenken: Erstens ist der garantierte Betrag von 100 000 Euro zu niedrig. Und zweitens stellt sich die Frage, wie man etwa mit Unternehmen und Kooperativen, klein oder gross, umgeht, deren Lohnsummen zeitweise weit über diesem Betrag liegen. Legt man unflexible Grenzen fest, riskiert man, die ganze Wirtschaft zu ruinieren, wie das bei der Bankensanierung in Zypern geschehen ist.

Sie haben in der «New York Times» geschrieben, dass eine Regierung unter der linken Partei Syriza eine Chance für Europa wäre.
Eine Partei, die die aktuelle zerstörerische Politik der EU ablehnt, nützt mehr, als dass sie schadet. Die Syriza hat den unbesonnenen Vorschlag, Griechenland aus der Eurozone hinauszuführen, nie gemacht. Die Mehrheit der Griechen will ja auch keinen Austritt.

Eine Regierung unter Syriza könnte bald Realität werden. Die derzeitige Regierung fällt allmählich auseinander …
… und am Anfang glaubte man noch, Regierungschef Antonis Samaras habe den Staatssender auflösen wollen, weil er dachte, er würde so oder so gewinnen! Dass also entweder seine Koalitionspartner hinausgedrängt würden und es dadurch zu vorgezogenen Wahlen käme – oder dass seine Partner nachgeben würden, womit Samaras in der Koalition seine Dominanz ausbauen könnte.

Er rechnete nicht damit, dass sich die Leute über die Schliessung aufregen würden.
Das ist exakt das, was mir Alexis Tsipras, der Vorsitzende der Syriza, gesagt hat: dass Samaras die Reaktion der Leute falsch eingeschätzt hat. Es gibt keine Alternative zum staatlichen Sender.

Er ist aber auch das Sprachrohr der Regierung …
Ja, sicher. Mein Kollege Yanis Varoufakis hat beim Staatssender ein Redeverbot erhalten.

Sie haben zusammen mit dem deutschen Ökonomen Heiner Flassbeck ein Buch herausgegeben (vgl. «Handelt jetzt!» im Anschluss an diesen Text). Sind Sie beide immer einer Meinung?
Heiner Flassbeck und ich stimmen in vielen Dingen völlig überein. In der wirtschaftspolitischen Strategie gibt es ein paar Unterschiede: Ich lege grösseres Gewicht auf die Stärkung der Sozialversicherung – und er auf die Steigerung der Löhne. Bei den Sozialversicherungen anzusetzen, hat den Vorteil, dass man politisch sehr schnell etwas tun könnte, wenn der Wille da wäre. Die Arbeitsverhältnisse sind schwieriger zu beeinflussen.

Schaut man sich in Europa um, so geht der Trend jedoch eher in die entgegengesetzte Richtung.
Das sehe ich auch so. Doch es ist nicht meine Aufgabe, ein politischer Realist zu sein – sondern ein ökonomischer. Ich versuche aufzuzeigen, welches Minimum an Massnahmen erforderlich ist, um einen Zusammenbruch des Systems abzuwenden.

Der vorliegende Text ist eine gekürzte Fassung eines längeren Gesprächs, das auf 
www.nachdenkseiten.de erschienen ist.

«Handelt jetzt!»

James Galbraith (61) ist Ökonomieprofessor an der University of Texas in Austin. Dort leitet er das «Inequality Project», ein umfassendes Forschungsvorhaben zum Thema «wirtschaftliche Ungleichheit», auf dem auch sein neues Werk «Inequality and Instability» (Oxford University Press, 2012) basiert.

Zusammen mit Heiner Flassbeck und anderen ÖkonomInnen hat er kürzlich den Aufruf «Handelt jetzt! Das globale Manifest zur Rettung der Wirtschaft» (Westend Verlag, 2013) publiziert (siehe WOZ Nr. 16/13). Die AutorInnen skizzieren darin das Versagen der dominierenden ökonomischen Lehre und fordern ein vollständig neues Denken.