Die griechische Tragödie : Warum Europa die Schulden vergessen muss
Was Anfang des Jahres noch als Schreckensszenario galt, wird langsam wahrscheinlich: der Ausschluss Griechenlands aus der EU und der Eurozone. Die Folge wäre eine politische und ökonomische Katastrophe. Welche Optionen stellen sich Europa?
«Wir wollen, dass Griechenland in der Eurozone bleibt, aber ob Griechenland in der Eurozone bleibt, das liegt in den Händen der GriechInnen und ist eine Entscheidung, die in Griechenland gefällt wird.» Diese Worte, die Vito Corleone aus Mario Puzos «Der Pate» alle Ehre machen würden, stammen vom deutschen Aussenminister Guido Westerwelle. Griechenlands WählerInnen haben sich nicht gegen das Verbleiben in der Eurozone entschieden und werden dies aller Voraussicht nach auch in den für Juni anberaumten Neuwahlen nicht tun. Das Votum des griechischen Volkes war vielmehr eines gegen die Klientelparteien Nea Dimokratia und Pasok und gegen das zerstörerische Austeritätsprogramm, das dem Land von der Troika aus EU, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) aufgezwungen wurde.
Die politischen Ziele der aufstrebenden Parteien links der sozialdemokratischen Pasok sind nicht der Austritt aus der Eurozone, sondern eine Stundung sowie ein Teilerlass der Schulden und eine Abkehr vom alles abwürgenden Sparkurs.
Ginge es nach Alexis Tsipras und dem linkssozialistischen Syriza-Bündnis, würde Athen aus ökonomischer Notwehr heraus die von der Troika aufgezwungene Sparpolitik beenden und seine Kreditverpflichtungen nicht mehr bedienen. Tsipras ist davon überzeugt, dass die GeldgeberInnen sich mit einer neuen Regierung zu Nachverhandlungen bereit erklären würden – aus Sorge vor dem kompletten Ausfall ihrer Forderungen und aus Angst, dass auch andere Euro-Sorgenkinder in den Abgrund gerissen werden könnten. Doch selbst wenn Alexis Tsipras und die Syriza bei den Neuwahlen eine absolute Mehrheit bekommen sollten, hat er nicht die Mittel, seine Forderungen durchzusetzen: Über das Schicksal Griechenlands wird längst nicht mehr in Athen entschieden. Wie die griechische Tragödie enden wird, liegt in der Hand der Troika.
Alexis Tsipras’ Problem ist, dass die Gläubiger Getriebene ihrer eigenen Ideologie sind. Wenn Griechenland der Troika die Bedingungen diktieren könnte, würde der – vor allem von Deutschland propagierten – «Shock and Awe»-Strategie («Schrecken und Ehrfurcht») der Boden unter den Füssen weggezogen. Warum sollten Portugal, Irland, Spanien und Italien sich dann noch von der Troika knallharte Bedingungen diktieren lassen, mit denen die ökonomische Basis dieser Länder erodiert und die Bevölkerung in Armut getrieben wird? Auch Portugal hat eine Jugendarbeitslosigkeit von mehr als fünfzig Prozent und leidet erbärmlich unter Angela Merkels Austeritätsknute. Die Macht des Paten Vito Corleone gründete darauf, dass jedermann wusste, wie er mit Menschen umging, die sich seinem Willen widersetzten, und dass er keine Kompromisse einging. Es ist keinesfalls auszuschliessen, dass die EU nicht blufft und Griechenland tatsächlich aus der Eurozone zwingt.
Kommt es bald zum Showdown an der Ägäis? Drei Optionen stehen im Raum, mit denen die europäische Politik auf die Entwicklungen in Griechenland reagieren kann.
1. Fortsetzung der Austeritätspolitik
Ginge es nach der deutschen Regierung und der EU-Kommission, würde Griechenland den eingeschlagenen Weg weitergehen, die Staatsausgaben noch stärker zurückfahren und die neoliberalen Strukturreformen fortführen. Dadurch würde sich die nun bereits fünf Jahre andauernde Rezession vertiefen, und weil mit der Wirtschaftskraft auch die Staatseinnahmen in den Keller gehen, wäre auch keine Sanierung des Staatshaushalts in Sicht. Ob und auf welchem Niveau der Teufelskreis aus Einsparungen, Lohnsenkungen, Deregulierung des Arbeitsmarkts, Arbeitslosigkeit und der damit zwingend verbundenen Verschlechterung des Staatshaushalts zu stoppen ist, können noch nicht einmal die BefürworterInnen der Sparpolitik sagen. Sie setzen ihre Hoffnung ausschliesslich darauf, dass das in ferner Zukunft zum Erfolg führen könnte.
Griechenland steht immer noch vor einem gigantischen Schuldenberg, der weiterwächst. Sollte kein ökonomisches Wunder geschehen, wird das Land seinen Verpflichtungen auch mittel- bis langfristig nicht nachkommen können. Andere Optionen (Schuldenerlass oder Euroaustritt) werden durch die Sparpolitik lediglich hinausgeschoben. Die Fortsetzung der Austeritätspolitik löst die Probleme nicht, sie ist ökonomisch unsinnig und politisch (also: gegen die Menschen) nicht umsetzbar. Die massenhafte Verarmung, die fortwährenden Demütigungen und vor allem die schiere Hoffnungslosigkeit haben dazu beigetragen, dass sich das griechische Volk aus seiner Duldungsstarre befreit und zu mehr als zwei Dritteln eine Politik gewählt hat, die sich gegen eine weitere ökonomische Strangulierung des Landes richtet. Eine fortwährende Suspendierung der Demokratie hätte nicht nur ökonomische, sondern auch politisch unabsehbare Folgen, siehe beispielsweise das Aufkommen der Neonazis.
2. Moratorium für die Schulden
Griechenland ist nach der Umschuldung der privaten Gläubigerforderungen mittlerweile fast ausschliesslich bei der Troika verschuldet. Eine Sonderrolle nimmt der «Rettungsschirm» EFSF ein, bei dem Athen momentan mit 103 Milliarden Euro verschuldet ist: Hier garantieren die Eurostaaten die Rückzahlung der Kredite an – meist – private Investoren. Technisch gesehen, vertritt die Troika somit inzwischen nahezu die gesamte Gläubigerseite. Die Troika könnte ohne weiteres ein Moratorium über die griechischen Schulden verhängen – wenn sie wollte. Dafür gibt es historische Parallelen: US-Präsident Herbert Hoover verhängte beispielsweise 1931 in der Weltwirtschaftskrise ein Moratorium für die europäischen Schuldner der USA. Würde man Griechenland ein paar Jahre Luft zum Atmen geben und warten, bis die griechische Konjunktur wieder Fuss fasst, könnte man immer noch über die Rückzahlungsmodalitäten der Kredite verhandeln. Jeder Gläubiger weiss, dass es manchmal von Vorteil sein kann, seinen Schuldner am Leben zu lassen.
Sollte die Troika zu keinen Konzessionen bereit sein, droht ohnehin ein Ausfall der vergebenen Kredite. Im Falle eines Euroaustritts Griechenlands ist sogar ein Totalausfall der Kredite der anderen Euroländer und der EZB wahrscheinlich. Durch einen Erlass oder eine Stundung der Forderungen könnten die Kreditgeber wenigstens einen Teil ihrer Kredite zurückbekommen. Noch wichtiger ist jedoch, dass eine solche Lösung einen Zusammenbruch der griechischen Wirtschaft und des griechischen Bankensystems verhindern und so die Ansteckungsgefahr für den Rest der Eurozone minimieren würde. Eine solche Lösung läge jedenfalls in beidseitigem Interesse.
3. Ausschluss aus EU und Eurozone
Die Euroverträge sehen zwar weder einen freiwilligen noch einen erzwungenen Austritt eines Eurolandes aus der Gemeinschaftswährung vor. Doch Papier ist geduldig, zumal ein Stopp der Hilfszahlungen derart desaströse Auswirkungen hätte, dass Griechenland gar keine andere Wahl hätte, als die Gemeinschaftswährung zu verlassen. Da Griechenland ein Primärdefizit hat, die Einnahmen des Staates also die Ausgaben nicht decken, könnte der Staat bereits wenige Wochen nach dem Stopp der EU-Zahlungen seine Rechnungen und damit auch die Löhne der Staatsbediensteten nicht mehr bezahlen. Zudem: Der gesamte griechische Bankensektor hängt am Tropf der EZB. Ohne den Zugang zur europäischen Zentralbank können sich die griechischen Banken nicht refinanzieren und wären von einem Tag auf den anderen pleite. Dies umso mehr, als der griechische Staat mitsamt seinen öffentlichen Betrieben – zusammen ergibt das ein Budget von 107 Milliarden Euro – nicht nur als potenzieller Retter, sondern nun auch als Schuldner ausfallen würde.
Ein Zusammenbruch des griechischen Bankensystems würde einerseits zu einer panikartigen Kapitalflucht führen und andererseits der griechischen Wirtschaft den Todesstoss verpassen. Wohl dem Betrieb, der über Auslandskonten verfügt!
In einem solchen Szenario würde die EU Griechenland am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Der gesamte griechische Staat wäre vom Geldverkehr abgeschnitten und gezwungen, aus dem Euro auszutreten und eine eigene Währung einzuführen. Selbstverständlich wären damit die bestehenden Zahlungsverpflichtungen nicht weg. Eine «neue Drachme» würde gegenüber dem Euro zwischen dreissig und fünfzig Prozent weniger Wert besitzen. Die Altschulden aller Sektoren (Privathaushalte, Unternehmen, Staat) sind aber in Euro notiert, und es ist wahrscheinlich, dass ein grosser Teil dieser Altschulden nicht bedient werden kann. Griechenland wäre fortan ein Paria auf den internationalen Finanzmärkten. Es käme zu einem harten Schuldenschnitt, bei dem wohl nur der IWF seine Gelder zurückbekäme. Kredite des IWF gelten vor allem bei Staaten, die von den Finanzmärkten abgeschnitten sind, als einzige Möglichkeit, überhaupt noch an Devisen zu kommen. Die einzigen Staaten, die noch nicht einmal ihre Schulden beim IWF bedienen können, sind Somalia, Sudan und Zimbabwe.
Es ist sehr spekulativ, die konkreten Folgen eines Euroaustritts Griechenlands zu benennen. Fest steht jedoch, dass das Land zum Armenhaus Europas würde. Es gab bislang noch keinen Staat, der einen Staatsbankrott hinlegen musste und gleichzeitig aus einer Währungsunion ausgeschlossen wurde.
Die Schockwellen einer solchen ökonomischen und politischen Katastrophe liessen sich nicht auf Griechenland begrenzen. Sollte Europa Griechenland fallen lassen, würde eine massive Kapitalflucht auch aus den angeschlagenen Euroländern (Portugal, Irland, Spanien, Italien) ins Zentrum der Eurozone stattfinden. Gleichzeitig würden die Banken keine Kredite mehr in die Peripherie vergeben, müssten sie doch nach dem Präzedenzfall Griechenland gleichfalls mit einem Ausfall rechnen, wenn auch andere Staaten aus der Eurozone fallen würden. Ein Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone hätte eine epidemische Wirkung und würde die Eurokrise binnen kürzester Zeit auf die nächste Eskalationsstufe heben. Dieses Szenario wäre der Worst Case und wahrscheinlich der Beginn des Endes der Gemeinschaftswährung überhaupt.
Was will Europa?
Nach rationalen Abwägungen gibt es nur eine Option, mit der Europa nicht nur Griechenland, sondern auch sich selbst aus der Krise befreien kann: Ein Schuldenmoratorium für Griechenland, kombiniert mit einem durchdachten Wachstums- und Investitionsprogramm für die Europeripherie und einer Anpassung der Lohnstückkosten im Zentrum der Eurozone zur Stärkung der Binnennachfrage. Sollte Europa sich für diesen Weg entscheiden, werden auch kommende Generationen noch in einem gemeinsamen Europa leben können. Sollte sich Europa dazu entscheiden, an Griechenland ein Exempel zu statuieren, werden die Folgen für den gesamten Kontinent zerstörerisch sein und den Traum vom gemeinsamen Europa nachhaltig beschädigen. Sechs Jahrzehnte der europäischen Annäherung stünden plötzlich zur Disposition. Der Kontinent würde hundert Jahre zurückgeworfen in die Zeit der konkurrierenden Nationalstaaten mit ihren hegemonialen Sphären. Es steht viel auf dem Spiel. Man kann nur hoffen, dass sich die Verantwortlichen in Athen, Berlin und Brüssel ihrer historischen Verantwortung bewusst sind.
Jens Berger ist freier Journalist und Blogger. Er ist Redaktor von nachdenkseiten.de und Herausgeber des Blogs spiegelfechter.com. Anfang 2012 erschien im Westend-Verlag sein Buch «Stresstest Deutschland. Wie gut sind wir wirklich?».