Ungleichheit und Instabilität: «Unsere Banken sind Motoren des Niedergangs»
Wachsende Ungleichheit weist auf eine zunehmend instabile Wirtschaft hin: Je weiter sich die Schere zwischen Arm und Reich öffnet, desto näher rückt die grosse Krise. Der US-Ökonom James Galbraith belegt dies in seinem neusten Buch mit einer Menge Daten.
WOZ: James Galbraith, weshalb stellen Sie ökonomische Ungleichheit ins Zentrum Ihrer Analysen?
James Galbraith: Meine ökonomischen Studien ergaben, dass Ungleichheit sehr empfindlich auf wirtschaftliche Schwankungen reagiert. Ich vergleiche das gerne mit dem Blutdruck. So wie beim Blutdruck gibt es auch bei der wirtschaftlichen Ungleichheit so etwas wie eine akzeptable Bandbreite. In diesem «gesunden» Bereich ist «tiefer» meistens besser. Und wenn der Blutdruck – oder die Ungleichheit – rasch ansteigt, dann ist das ein Anzeichen dafür, dass man auf eine Krise zusteuert. Ungleichheit ist ein guter Gradmesser für den Gesundheitszustand des Systems.
Das tönt sehr einfach. Wieso ist diese Verknüpfung von Ungleichheit und Instabilität denn nicht ökonomisches Allgemeinwissen?
Die ökonomische Lehrmeinung in den USA und wohl auch in Europa führt wirtschaftliche Ungleichheit vor allem auf technologische Veränderungen zurück, also darauf, wie der Arbeitsmarkt auf diese Veränderungen reagiert, und allenfalls noch auf den internationalen Handel. Die Debatte umkreist daher ständig das Problem der Berufsbildung beim Abbau von Ungleichheit. Doch bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass Ungleichheitstrends massgeblich davon bestimmt sind, inwieweit alle Wirtschaftsbereiche der Logik der Banken unterworfen werden. Wir nennen das den Finanzialisierungsgrad der Wirtschaft.
Also kommt es gar nicht so sehr auf die persönliche Qualifikation der Einzelnen an. Was heisst das für junge Menschen vor der Berufswahl?
Natürlich bekommen Leute mit besserer Ausbildung in einer ungleichen Gesellschaft in der Regel auch besser bezahlte Jobs. Aber es ist zu einem grossen Teil Glückssache. In den USA gab es ab den neunziger Jahren enorm viele junge Menschen, die Computertechnologie studierten, weil sie sich davon eine glänzende Zukunft versprachen. Es stellte sich heraus, dass der kreative und gut bezahlte Teil dieses Arbeitssektors sehr klein ist. Allgemein gesagt: Wenn eine Ausbildung junge Menschen nicht echt interessiert und befriedigt, ist sie eher eine Lotterie ohne grosse Gewinnchancen. Denn die meisten werden den Einsatz verlieren. Junge Leute sollten ihren Interessen nachgehen, ihre Talente entwickeln und das wirklich ausgezeichnete System der höheren Bildung nicht bloss als Einkommensgarant sehen. Auch sollten sie sich vielleicht ein paar Gedanken machen über den gesellschaftlichen Stellenwert der Sozialversicherungen, die in ihrem Leben viel wichtiger sein werden, als sie sich das jetzt, am Anfang ihres Erwachsenseins, vorstellen können.
Sie relativieren in Ihrem Buch aber nicht bloss die Einflussmöglichkeiten der Erwerbstätigen, sondern auch die der einzelnen Regierungen. Überschätzen die Nationalstaaten ihren Handlungsspielraum?
Aus unserer Forschung wurde klar ersichtlich, dass es für den Verlauf der Ungleichheit in den letzten dreissig Jahren globale Muster gibt. Das herausragendste Merkmal ist wohl die massive und weltweite Zunahme von Ungleichheit von den frühen achtziger Jahren bis ins Jahr 2000. Diese globale Ungleichheit war nicht das Ergebnis spezifischer Entscheide der einzelnen Regierungen. Die Länder wurden ganz einfach von den Auswirkungen der hohen Zinsen, der Schuldenkrise und der Entwicklung der Rohstoffpreise hart getroffen. Dabei waren die meisten Staaten bloss Betroffene des Weltpolitikklimas und nicht dessen Gestalter. Grosse Länder wie die USA oder mächtige Wirtschaftsregionen wie die EU hingegen hatten einen starken Einfluss auf dieses Klima. Die in Washington, London oder Berlin getroffenen Entscheide wirkten weit über die Landesgrenzen hinaus.
Sind sich die mächtigen Regierungen dieser globalen Wirtschaftsmuster, die zu Ungleichheit und Instabilität beitragen, eigentlich bewusst?
Die Regierungen haben sich in diesen Jahren nicht gross um die Zunahme der Ungleichheit auf dem ganzen Globus gekümmert. Sie hingen mit Überzeugung der freien Marktwirtschaft an, und sie nahmen die Folgen dieser Wirtschaftsweise ohne Wimpernzucken hin. In der Tat war die Umverteilung von Arm zu Reich in den achtziger Jahren grundlegend für die Politik der USA und anderer reicher Länder. Das zeigte sich in den Steuerordnungen und auch bei der Hochzinspolitik, in der Privatisierung und Deregulierung und beim Erwerb von Kapitalanlagen in Entwicklungsländern zu Spottpreisen.
Das alles ist kein Geheimnis. Ich versuche bloss, möglichst genaue Daten zu liefern, damit wir besser verstehen, was eigentlich passierte, wann genau es passierte, wann alles anfing und wann es zu Ende ging. Die wissenschaftliche Aufbereitung macht es schwieriger, die Wirklichkeit zu verschleiern.
In Europa machen die Regierungen aber munter weiter. Die EU verlangt von den verschuldeten Mitgliedern nach wie vor eine strenge Sparpolitik und noch flexiblere Löhne. Nur so könne beispielsweise Griechenland wirtschaftlich gesunden …
Dieser Sparkurs wird der Bevölkerung mit den immer gleichen Lügen und Unwahrheiten verkauft. Das Konzept der flexiblen Löhne ist eines dieser Ammenmärchen. Was ist mit den Löhnen in der Krise tatsächlich geschehen? Am unteren Ende sind die Löhne in ganz Europa scharf gefallen. Das ergab eine enorme Zunahme von Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt. Doch die Arbeitslosigkeit nahm nicht ab, sie nahm zu. Dass eine grössere Ungleichheit in der Lohnstruktur zur Lösung des Arbeitslosigkeitsproblems beiträgt, ist nachweislich falsch. In Europa haben die Länder mit weniger Ungleichheit auch weniger Arbeitslosigkeit.
Die Zunahme der Arbeitslosigkeit in Europa ab den siebziger Jahren hat einen ganz anderen Grund als die vermeintlich «starre Lohnpolitik». In dieser Zeit entstand nämlich die Europäische Union. Die Investitionsmöglichkeiten und der Arbeitsmarkt nahmen europäische Dimensionen an. Und dieser neue Wirtschaftsraum war als Ganzes viel ungleicher – und damit auch instabiler –, als die einzelnen Nationen es vorher waren.
Immer wenn Ungleichheit und Instabilität verringert werden sollen, bedeutet das für die ärmeren Regionen weniger Arbeitslosigkeit als zuvor. Die reichen Länder jedoch müssten etwas von ihrem Reichtum abgeben. Wie kann ein solcher Prozess politisch überhaupt angegangen werden?
Wenn man eine Ökonomie einigermassen effizient im grossen Massstab führen will, dann müssen die reicheren Regionen in die ärmeren investieren, sie entwickeln und aufbauen. Sonst wird sich die Bevölkerung der ärmeren in die reichen Länder bewegen. Das ist überall auf der Welt so. In den USA zum Beispiel gab es praktisch keine Fortschritte in der US-Wirtschaft, bis Franklin Roosevelt in den dreissiger Jahren mit seinem New Deal den Süden entwickelte und transformierte. Bis dahin war der Süden der USA ein unterentwickeltes Gebiet gewesen, in dem Mangelernährung und Analphabetismus an der Tagesordnung waren. Ein anderes Beispiel, das ich selber gut kenne, weil ich am Reformprozess beteiligt war, ist China. Bis in die siebziger Jahre betrieb China praktisch eine Kriegswirtschaft. Die einzelnen Industriezentren operierten getrennt, damit im Fall eines Landkriegs mit der Sowjetunion, den die chinesische Führung fürchtete, auf Ressourcen im Landesinnern zurückgegriffen werden könnte. Nach Abklingen der Kriegsgefahr und mit der folgenden nationalen Wirtschaftsintegration entstanden dann sehr grosse Ungleichheiten zwischen den Regionen, etwa zwischen dem Landesinnern und der Küste. Das wiederum erzeugte eine enorme Migrationsbewegung, die heute das grösste ökonomische und soziale Problem von China darstellt. Das ist genau die Situation, vor der die USA vor dem New Deal standen. Und es ist das Problem, vor dem Europa heute steht, wenn es ein effizient funktionierender kontinentaler Wirtschaftsraum werden will.
In China gibt es eine Zentralregierung, die sich die «harmonische Gesellschaft» auf die Fahnen geschrieben hat. In Europa hingegen kämpfen starke Nationalstaaten um jeden Zentimeter Souveränität, den sie an die EU abgeben müssen. Es gibt starke nationale Interessen und Gesetze. Kann eine echte Wirtschaftsintegration unter diesen Bedingungen überhaupt stattfinden?
Bezüglich Europa bin ich nicht sehr optimistisch. Die mächtigsten Regierungen sitzen in äusserst starken Nationalstaaten. Bundeskanzlerin Angela Merkel etwa ist durch die Unruhen in Griechenland oder Spanien nicht ernsthaft bedroht. Ihr politisches Problem ist ganz und gar ein deutsches. Und es kommt von den Leuten, die das Gefühl haben, ihnen werde Reichtum weggenommen.
… oder die fürchten, dass andere nach Deutschland kommen, um an ihrem Reichtum teilzuhaben.
Genau diese zwei Möglichkeiten stehen aber zur Wahl: In einem integrierten Europa werden die reichen Nationen entweder die Mittel stellen, um die Ökonomien des Südens zu stabilisieren, oder aber die BewohnerInnen des Südens werden in den reichen Nationen auftauchen. Das sind die einzigen gangbaren Alternativen, wenn Europa überleben will. Sonst bricht die Region auseinander, und auch das wird sehr unangenehm werden. Es fragt sich, ob es einen Teil Europas gibt, der genug Gewicht hat, um den Kurs der gegenwärtigen europäischen Politik zu ändern. Meiner Meinung nach wäre das Italien – wenn es eine starke politische Führung hätte. Italien ist gross genug und wichtig genug für das Überleben der EU. Wenn Italien eine andere Politik verlangen würde als die gegenwärtige Sparübung, würde man das ernst nehmen.
Wäre es denkbar, dass sich die Länder des Südens zu einer Interessengemeinschaft gegen die Sparpolitik des Nordens zusammenschliessen?
Denkbar schon. Und logisch wäre es auch. Aber wie sollte ein politisches Bündnis von Portugal bis Griechenland entstehen? Die Regierungen sind nicht stark und vorausdenkend genug für einen solchen Schritt. Vielleicht könnten Italien und Frankreich einen Anfang machen. Eine gemeinsame Front der Südländer wäre jedenfalls eine echte Überraschung.
Angesichts der starken globalen Strukturen: Welche Akteure könnten überhaupt eine andere Wirtschaftspolitik lancieren?
Das ist eine Frage, auf die ich keine gute Antwort habe. Ich versuche nicht, eine politische Bewegung zu gründen. Ich will eine konzeptionelle Grundlage geben. Und zwar eine Grundlage, die so weit wie möglich faktisch begründet ist.
Sprechen wir trotzdem über mögliche Wege zu einer anderen Wirtschaftspolitik. Wo könnte die Veränderung ansetzen?
Wir sollten uns zu Nutze machen, wie sehr die Krise die Dysfunktionalität und Sinnlosigkeit des globalen Finanzsystems blossgelegt hat. Das war vorher nicht so klar. In der Antiglobalisierungsbewegung sprachen alle vom Handel. Man verbiss sich in Rückzugsgefechte, die kaum Aussicht auf Erfolg hatten. Das Problem mit dem Handel ist, dass man ihn nicht stoppen kann. Niemand kann zum Beispiel China daran hindern, das zu produzieren, was es will, und die Güter werden unweigerlich auf dem Weltmarkt auftauchen.
Doch nun hat die Krise zwei wichtige Schwächen des Finanzsystems aufgedeckt: Erstens ist das System, insbesondere in den USA, komplett korrupt. Die sogenannten Mortgage Backed Securities, also hypothekengesicherte Wertpapiere, sind Finanzinstrumente, die eigens geschaffen wurden, um die US-Hypotheken in der ganzen Welt zu vermarkten. Sie waren von A bis Z ein Schwindel. Leute, die in diesen Markt investierten, wurden nach Strich und Faden betrogen. Betrug ist jedoch illegal, man kann dagegen vor Gericht klagen. Das könnte ein schöner Teil der globalen Wirtschaftsgemeinschaft tatsächlich tun.
Als Zweites sollten wir uns vor Augen halten, was die Banken heute, in der Schuldendeflation, eigentlich tun. In einer normal wachsenden Wirtschaft gewähren Banken Darlehen, um die Unternehmen zu unterstützen, Arbeitsplätze zu schaffen und Wachstum zu fördern. In einer Wirtschaft mit fallenden Anlage- und Immobilienwerten tun sie das nicht. Sie machen Profite, indem sie auf ihrem Geld sitzen und war ten, bis die Preise noch tiefer fallen. Sie beschleunigen den Zerfall der Anlagenwerte. Und wir haben diese Institutionen mit unseren Steuergeldern gerettet in der Annahme, dass sie Motoren des Wachstums sind. Doch Wachstumsmotoren sind sie nur unter bestimmten Bedingungen. Im Moment sind sie Motoren des Niedergangs. Das zu verstehen, ist äusserst wichtig. Erst jetzt können wir entscheiden, ob wir Institutionen erhalten wollen, die teuer sind, politisch dominant und sehr mächtig – und die der breiten Bevölkerung nichts zurückgeben.
Es gibt doch heute gerade in den USA etliche politische Gruppierungen, die die Banken und die Verschuldung unter die Lupe nehmen und kritisieren.
Der Strassenprotest rund um das Bankensystem ist aber nur eine Seite der Medaille. Ebenso wichtig ist, dass in jedem einigermassen funktionierenden Land die Regierung stärker sein muss als die Banken. Die Banken dürfen die Regierung nicht in der Tasche haben. Und wenn eine Bank von Insolvenz bedroht ist, muss die Regierung einschreiten und sie übernehmen.
Und warum ist das in den USA während der Krise von 2008 nicht passiert?
Im Herbst 2008 war die Regierung Bush kaum mehr handlungsfähig. Meine Empfehlung als Berater des US-Kongresses war damals: Wartet ab, bis ein neuer Präsident gewählt ist, und regelt das Bankenproblem, sobald er sein Amt antritt. Der neue Präsident kam, aber die entscheidende Aktion blieb aus. Stattdessen versuchte man weiterhin, die Banken als Institutionen wie bisher zu bewahren. Für mich war das die Hauptquelle der nachfolgenden politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die Regierung Obama tat nicht, was sie hätte tun müssen, und zwar deshalb nicht, weil ihr Wirtschaftsbild sich um den Erfolg der Banken dreht. Finanzminister Timothy Geithner sagte das ganz offen: Die US-Ökonomie laufe wesentlich über die privaten Finanzinstitute, und er wolle das so beibehalten, schon wegen der Rolle der Finanzinstitute im globalen Wirtschaftsgefüge. Die britische oder die deutsche Regierung sehen das wohl ganz ähnlich.
Als Gegenbeispiel nennen Sie etwa Brasilien – ein Land, das die Macht der Banken und in der Folge auch die Ungleichheit zu reduzieren vermochte.
Die Ungleichheit ist in Brasilien natürlich immer noch ziemlich hoch. Doch so viel lässt sich nachweisen: Als der Anteil des nationalen Einkommens, der durch den Finanzsektor floss, kleiner wurde, da wuchs der Anteil, der dem öffentlichen Sektor zur Verfügung stand. Und der öffentliche Sektor nutzte diese Gelder, um die extreme Armut im Land ziemlich wirkungsvoll zu reduzieren.
Stimmt das global: Wenn man die Finanzialisierung der Wirtschaft senken kann, verringern sich auch Ungleichheit und Instabilität?
Das steht ausser Frage. Dabei sind verschiedene Punkte massgebend. Erstens geht es darum, die Abhängigkeit der Wirtschaft von den Finanztransaktionen zu mindern und die Rolle des Finanzsektors als alleinigen Motors des Wachstums zu relativieren. Die Banken sind da und sehr wichtig. Aber man kann durchaus parallele und komplementäre Institutionen haben, die übernehmen, was der Finanzsektor nicht abdeckt. Institutionen auch, die Standards setzen, die der Finanzsektor sonst nicht befolgen würde.
Ebenfalls wichtig ist es, ein dichteres Netzwerk für soziale Sicherheit aufzubauen. Das erhöht, ganz allgemein gesprochen, das Potenzial der Bevölkerung. Die Leute sind nicht nur weniger arm, sondern auch besser dazu befähigt, sich selber aus der Armut herauszuhalten.
Was speziell im Fall von Brasilien grosse Wirkung zeigte, war die Erhöhung des Mindestlohns. Der Minimallohn ist im Prinzip ein selbsttätiger Mechanismus, der die Ausbeutung der Arbeitskräfte verringert. Das konnten wir in mehreren Ländern beobachten. Aktuell hat sich in England gezeigt, dass die Einführung eines ziemlich guten Minimallohns keine Stellen kostete, aber Armut reduzierte.
Eine weitere nützliche Massnahme in der Krise wäre die Reduzierung und Flexibilisierung des Rentenalters. Ich habe in den USA konkret vorgeschlagen, das offizielle Rentenalter vorübergehend um drei Jahre zu senken für alle, die davon Gebrauch machen möchten.
In Skandinavien gibt es gemäss Ihren Messungen weniger Ungleichheit und Instabilität als in andern Ländern – und Skandinavien hat einen auffallend grossen Care-Sektor. Gibt es da einen Zusammenhang?
Es ist sehr wichtig, dass wir uns überlegen, welche Arbeitsplätze wir überhaupt brauchen. Die Jobs, die wir aus Gründen des Wettbewerbs mit anderen Ländern schaffen, sind ein ziemlich kleiner Teil der Arbeit, die wir als Gesellschaft insgesamt benötigen. Man vergisst manchmal, wie viele Arbeitsstellen der Gesundheits- und der Bildungssektor in den USA – und auch in Europa – bereits heute anbieten.
… und das in Zukunft noch vermehrt tun werden?
Hoffen wir es. Nebenbei gesagt, ist es in der Krise von Vorteil, für Bildung und Gesundheit eine gemischte Finanzierung zu haben. In den USA finanziert sich der Sektor durch Staatsgelder, Steuererleichterungen, philanthropische Beiträge und individuelle Gebühren. Auf diese Weise sind die Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen weniger stark von allfälligen Sparübungen der öffentlichen Hand betroffen und bleiben in der Krise stabiler.
Die Sparpolitik der Regierungen beschneidet also sehr direkt die Care-Ökonomie?
Ja, und wenn man hier kürzt, erhöht man sozusagen die Kosten für die einzelnen Menschen. Eine universelle Sozialversicherung hat minimale Administrativkosten. Sobald man Leute ausschliesst, ihren Anspruch prüft et cetera, steigen die Kosten für Leistungen, von denen nun weniger Leute profitieren können. Den Sozialstaat in seinen wichtigsten Funktionen zu beschneiden, ist keine effektive Kostenersparnis. Es ist so, wie wenn man die Kühlflüssigkeit eines Reaktors vermindern würde. Man spart damit ein wenig am Unterhalt, aber man riskiert, dass dafür etwas weitaus Schlimmeres passiert.
Finanzkapitalismus
Seit Beginn der Finanzmarktkrise Anfang 2008 hat sich die WOZ immer wieder mit den entsprechenden wirtschaftlichen Vorgängen und gesellschaftlichen Verwerfungen beschäftigt. Dazu gehören fundierte Analysen, aber auch Berichte über die direkt Betroffenen, über TäterInnen und Opfer oder Geld als Glaubensfrage. Diese Texte sind in einem Dossier auf unserer Website versammelt. Ein kleines Gegenstück zum finanzmarktgetriebenen Kapitalismus könnte eine solidarische Wirtschaft sein. Auch dazu hat die WOZ in den letzten Jahren regelmässig publiziert. Diese Texte sind jetzt in Buchform erschienen. Bettina Dyttrich, Pit Wuhrer (Hrsg.): «Wirtschaft zum Glück. Solidarisch arbeiten heute, weltweit». Rotpunktverlag. Zürich 2012.
Die Texte finden sich im Dossier «Finanzkapitalismus» unter www.woz.ch/d/aktuell.
James Galbraith
Der linksliberale US-Ökonom James Galbraith (60) ist dank seines ins Deutsche übersetzten Buchs «Der geplünderte Staat oder Was gegen den freien Markt spricht» (Rotpunktverlag 2010) auch hierzulande bekannt geworden. Der Sohn schreibe ebenso bissig und sarkastisch wie sein Vater, der berühmte Wirtschaftswissenschaftler John Kenneth Galbraith, meinten damals die RezensentInnen. Zu Beginn der Wirtschaftskrise, im Oktober 2008, wurde James Galbraith von der WOZ zur Dekonstruktion der neoliberalen Marktwirtschaft interviewt.
Galbraith ist Ökonomieprofessor an der University of Texas in Austin und leitet dort seit Jahren das Inequality Project, ein umfassendes Forschungsvorhaben zum Thema «wirtschaftliche Ungleichheit», auf dem auch sein neues Werk, «Inequality and Instability» (Oxford University Press, 2012), basiert.
Das neue Buch von James Galbraith: Die Weltwirtschaft vor der grossen Krise
Der volle Titel des bisher nur auf Englisch erhältlichen neuen Buchs von James Galbraith lautet übersetzt: «Ungleichheit und Instabilität. Eine Studie der Weltwirtschaft unmittelbar vor der grossen Krise». Darin räumt der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler mit orthodoxen ökonomischen Lehrmeinungen gründlich auf. Wirtschaftliche Ungleichheit sei nicht der gerechtfertigte Preis, den eine Gesellschaft für flexible Märkte und eine blühende Wirtschaft zahlen müsse. Im Gegenteil: Ungleichheit destabilisiere die Ökonomie. Und schuld an der seit den achtziger Jahren global wachsenden Ungleichheit – und Instabilität! – sei in erster Linie der ungezähmt wachsende und wuchernde Finanzsektor. James Galbraith schreibt prägnant, aber nicht polemisch. Er unterlegt seine Thesen mit einer Fülle von Daten, die er und sein Forschungsteam an der University of Texas seit Jahren zusammengetragen haben. Für eine gesunde Wirtschaft, die nachhaltig wachsen wolle, brauche es eine effiziente Regulierung von Ungleichheit, schreibt Galbraith. Denn so bekomme man auch die Instabilität unter Kontrolle. Doch er stellt im Schlusskapitel selbst fest: «Die Fähigkeit und der Wille der politischen Systeme, den Lauf der Ungleichheit zu beeinflussen, sind in der heutigen Welt sehr beschränkt.»
Lotta Suter
James Galbraith: «Inequality and Instability. A Study of the World Economy Just Before the Great Crisis». Oxford University Press, 2012.