Ägypten: Die armeehörige Opposition und die Konterrevolution
In den Reihen der Übergangsregierung formiert sich das alte Regime Mubaraks. Derweil wird die Opposition mittels Nationalismus auf die harte Linie der Armee gegen die Muslimbrüder gebracht.
«Die Armee hat gezeigt, dass sie dem Ruf des ägyptischen Volkes folgt. Die Armee ist die Stimme des Volkes», sagte ein Demonstrant am 30. Juni bei den Massenprotesten für die Absetzung Muhammad Mursis in Kairo. Generalstabschef und Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi versucht seither, eine Symbiose zwischen Volk und Armee herbeizureden. Das Militär habe vom Volk das Mandat erhalten, Mursi abzusetzen. Die Armee werde den «Willen des Volkes» beschützen und gegen «die Terroristen» vorgehen, sagte Sisi am Sonntag. Die Muslimbrüder sind zum Synonym für Terroristen geworden. Nach der gewaltsamen Räumung ihrer Protestcamps diskutiert die Regierung nun offen über ein Verbot der Organisation.
Die Wiederherstellung des vorrevolutionären Regimes läuft auf Hochtouren. Die Zerschlagung des alten Parteiapparats der Nationaldemokratischen Partei (NDP) Hosni Mubaraks hat die Armee und mächtige Kader des 2011 gestürzten Regimes nicht an der Rückeroberung der politischen Sphäre Ägyptens gehindert. Heute aber muss sich das alte Regime nicht verstecken. Geschicktes Taktieren während Mursis Amtszeit hat es Mubaraks Schergen erlaubt, die Opposition auf Linie zu trimmen. Das Übergangskabinett wird derweil von ehemaligen NDPlern und alten Bekannten kontrolliert.
Nationalistische Welle
«Revolution ist ein Prozess, eine Konterrevolution auch», schreibt der Journalist Adam Shatz. Das Mittel zur erfolgreichen Restauration des altbekannten Polizeistaats am Nil nach dem Ausschalten der Muslimbrüder ist der Nationalismus. Das Land wird derzeit von einer nationalistischen Welle überrollt. «Das ägyptische Volk», der «Wille des Volkes» oder «Kampf gegen den Terrorismus» sind die am häufigsten gebrauchten Floskeln der Übergangsregierung, der Generäle und des Grossteils der säkularen, liberalen und nasseristischen Opposition, die sich im Zuge der gewaltsamen Räumung der Camps der Muslimbrüder fast geschlossen hinter Regierung und Armeeführung geschart hat. Sie alle versuchen, die politische Lage in Ägypten auf den Kampf zwischen zwei Lagern zu reduzieren: zwischen guten Liberalen und bösen Terroristen.
Die Nationale Heilsfront (NSF), ein Bündnis liberaler und nasseristischer Parteien und die stärkste Kraft in der säkularen Opposition, hat sich ohne Wimpernzucken hinter Sisi und den von ihm eingesetzten Übergangspräsidenten Adli Mansur gestellt. Auch die NSF, die im Übergangskabinett stark vertreten ist, setzt auf den Nationalismus und die Dämonisierung der Muslimbrüder. Sie beschuldigt die Bruderschaft, den Staat «stürzen» zu wollen, und lobt die Armee für ihre «historische Rolle» im Kampf gegen «organisierten Terrorismus». Muhammad al-Baradei, Vorsitzender der Verfassungspartei, die Teil der NSF ist, ist aufgrund des brutalen Vorgehens der Sicherheitskräfte bei der Räumung der Camps der Muslimbrüder von seinem Amt als Vizepräsident zurückgetreten. Von der NSF und seiner eigenen Partei hagelte es Kritik, er habe sich aus der Verantwortung gestohlen.
Auch Hamdin Sabahi, Vorsitzender der nasseristischen Karama-Partei, der stärksten staatssozialistischen Fraktion in der NSF, unterstützt den Kurs der Regierung. Die machthungrigen Nasseristen, eine immer noch einflussreiche politische Strömung in Ägypten, haben sich schnell von den Militärs einwickeln lassen – ob aus ideologischer Nähe zu Sisi oder aus Machtkalkül, sei dahingestellt. Sisi hat sie bei der Bildung der Übergangsregierung einbezogen: Mehrere Minister kommen aus dem nasseristischen Lager und verschaffen diesem wieder politischen Einfluss.
Die säkulare, regimenahe Opposition sieht sich zwar durch die vergangenen Massenproteste gegen Mursi gestärkt, profitiert politisch jedoch vor allem durch ihre Nähe zur Armee; Rückhalt in der Bevölkerung hat sie nur in den urbanen Zentren. Während liberale Parteien wie die Sozialdemokraten oder die Verfassungspartei in der Mittel- und der Oberschicht ihre AnhängerInnen haben, kann die Karama-Partei in Kairo und Alexandria auf Rückhalt in den ärmeren Bevölkerungsschichten zählen. Auf dem Land hingegen, vor allem in Oberägypten, hat die Bruderschaft ihre Basis. Auch wenn deren politische Führung der Mittelschicht entstammt, kommt der wesentliche Anteil ihrer Anhängerschaft aus den benachteiligten Landesteilen.
Isolierter «dritter Platz»
Dennoch widersetzen sich einige politische Gruppen der Polarisierung von Ägyptens Gesellschaft. Nach der Absetzung Mursis riefen die gewerkschaftsnahen Revolutionären Sozialisten (RS) und die liberale Bewegung des 6. April zu einer Demonstration des «dritten Platzes» auf, um sich der aufgeheizten Dynamik zwischen AnhängerInnen und GegnerInnen der Muslimbrüder zu entziehen. Nein zur Wiedereinsetzung der Regierung Mursi, Nein zur Militärherrschaft. Schon 2011 hatte der RS-Wortführer Hossam al-Hamalawi vor einer Rückkehr der Schergen Mubaraks gewarnt. Verfrühte Wahlen würden Parlament und Staatspräsident zu Marionetten des immer noch mächtigen Militär- und Polizeiapparats machen.
Er sollte recht behalten. In einer Mitteilung bezeichnen die RS die Auflösung der Protestlager der Muslimbrüder als «blutige Generalprobe für die Liquidierung der Revolution» und die Angriffe von Muslimbrüdern und SalafistInnen auf ChristInnen als «sektiererisches Verbrechen, das nur den Kräften der Konterrevolution» diene. Die RS stehen weiter zu den Zielen der Revolution von 2011: Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Ihre Proteste wurden dennoch nur mässig besucht. Sie rufen derzeit nicht zu Demonstrationen auf, es sei schlicht zu gefährlich, heisst es aus dem Umfeld der RS. Und sie wissen, dass die Zeit der Streiks wieder kommen wird. Immer wenn seit 2011 politische Proteste abflauten, intensivierten sich die Arbeitskämpfe unabhängiger Gewerkschaften und setzten das Regime weiter unter Druck.
«Es gibt keinen dritten Platz, es gibt das ägyptische Volk und die Terroristen, nichts dazwischen», sagt Muhammad Nabwi, Sprecher von Tamarod (Rebellion), der Unterschriftenkampagne für Mursis Absetzung, die die Massenproteste gegen die Muslimbrüder erst ausgelöst hatte. Er wirft dem «dritten Platz» vor, das ägyptische Volk zu teilen, und bedient damit exakt die nationalistische Einheitsrhetorik, die die Armee derzeit gern hört.
Tamarod lässt sich derweil vor den Karren der Armee spannen. Muhammad Badr, Mitbegründer der Initiative, hatte am Freitag dazu aufgerufen, gegen den «Terror» der Bruderschaft zu demonstrieren, und damit allzu offen gezeigt, wie nahe er den Generälen steht. Die neue Unterschriftenkampagne von Tamarod, die ausländische Finanzhilfen und den Einfluss der USA auf Ägypten ins Visier nimmt sowie den Friedensvertrag mit Israel neu aushandeln will, lässt zudem erneut Zweifel an der Unabhängigkeit der Organisation aufkommen. Wird Tamarod zum neuen Sprachrohr des Regimes aufgebaut?
Das Erbe Nassers
Die Nasseristen sind das politische Erbe Gamal Abdel Nassers, Ägyptens Präsident von 1954 bis 1970. Nasser hatte 1952 mit den Freien Offizieren geputscht und die Monarchie gestürzt. Sein Staatssozialismus basierte auf der Verstaatlichung der Industrie, der Bekämpfung der Armut, nationalistischer Rhetorik und der Überzeugung, nur ein starker Staat unter Kontrolle der Armee könne Ägyptens Unabhängigkeit garantieren. KommunistInnen und Muslimbrüder liess Nasser verfolgen.