Fussball und andere Randsportarten: Wo war der Frühaufsteher?

Nr. 38 –

Pedro Lenz über ein fragwürdiges Radsportmärchen.

Die Vuelta a España, die zusammen mit der Tour de France und dem Giro d’Italia zu den drei grossen Etappenrennen des Radsports zählt, ist am vergangenen Wochenende zu Ende gegangen. Gewonnen wurde die Rundfahrt vom US-Amerikaner Chris Horner. Dieser Erfolg ist eine sportliche Sensation, weil Horner nicht zum engsten Favoritenkreis zählte und weil er ausserdem der älteste Sieger aller Zeiten in einer der drei Grands Tours geworden ist.

Christopher Horner kam 1971 zur Welt und hatte in seiner langen Profikarriere bloss ein paar bescheidene Erfolge vorzuweisen. In diesem Jahr war er fast die ganze Saison hindurch verletzt. Doch dann tauchte er an der Vuelta auf und verblüffte die Radwelt mit seinem leichten Tritt und seiner grossen Leidenschaft. Er gewann zwei Etappen und stand am Ende auch im Gesamtklassement zuoberst auf dem Podest. Hinter sich liess er keinen Geringeren als den amtierenden Giro-Sieger Vincenzo Nibali, der immerhin dreizehn Jahre jünger ist als er. Nicht nur im radsportverrückten Spanien wurde dieser unerwartete Triumph wie ein Wunder aufgenommen. Die Naturgesetze sind überwunden! Vierzig ist das neue Zwanzig! Alt sein ist ab sofort nur noch eine Einstellungssache! Ein Veloprofi, der mit fast 42 Jahren Konkurrenten stehen lässt, die vom Alter her seine Söhne sein könnten, kann jedem alternden Hobbypedaleur zum Vorbild gereichen!

Dies alles und noch viel mehr dachten wir Radsportfans exakt bis zum ersten Tag nach der Vuelta. Am vergangenen Montag machten sich nämlich ein paar humorlose Herren von der Agencia Española Antidopaje (AEA) auf die Suche nach dem frischgebackenen Superstar. Sie wollten den glücklichen Mann für eine routinemässige Dopingkontrolle aus dem Bett holen. Wie die Polizei, die Verhaftungen mit Vorliebe in den frühen Morgenstunden vornimmt, stellten die Dopingfahnder ihre Wecker so, dass sie den Amerikaner direkt aus dem Traum ins Labor hätten führen können. Gross war freilich die Überraschung, als sie vernehmen mussten, dass der ewig junge Chris nicht zugegen war. Niemand konnte den Herren von der Antidopingagentur sagen, wo Horner sich aufhielt.

Jetzt hat der Champion ein Problem. Denn anders als zum Beispiel in meinem Berufsfeld, wo jedeR jede Nacht schlafen oder nicht schlafen darf, wo es ihm oder ihr gerade beliebt, sind Radprofis dazu verpflichtet, ihren Aufenthaltsort Wochen im Voraus den Dopingjägern bekannt zu geben. Und anders als bei uns Schriftstellerinnen und Schriftstellern, wo jedeR jede Substanz zu sich nehmen darf, die dabei hilft, im Herzen jung zu bleiben, ist es den Berufsradfahrern nicht gestattet, ihre Luxuskörper künstlich in Schwung zu halten. Die ernsten Herren von der Agencia Española Antidopaje haben jetzt gegen Chris Horner ein Verfahren eingeleitet.

Was die Fahnder in Horners Blut genau vermuten, bleibt vorläufig ihr Geheimnis. Wir alternden Radsportfans, die wir uns so gefreut hatten, dass ein bisher beinahe unbekannter Sportler das Alter neu definiert hat, sind nun ernsthaft besorgt. Es wäre ja durchaus denkbar, dass unser neues Idol einfach ein Frühaufsteher ist.

Frühaufsteher haben nun mal die Angewohnheit, ihre Schlafkammer beizeiten zu verlassen. Dabei kann es doch vorkommen, dass einer vergisst, der Autorität mitzuteilen, dass er schon unterwegs ist. Und wer weiss, vielleicht wollte Christopher Horner nur mal rasch in einem Kaffeehaus die Sportzeitungen lesen und hat dabei vollkommen verdrängt, dass er einer Berufsgruppe angehört, deren Körpersäfte rund um die Uhr der Öffentlichkeit zugänglich sein müssen.

Mir persönlich sind Sportler, die am frühen Morgen Zeitung lesen, nicht unsympathisch. Und falls Horner diese Zeilen liest, sei ihm hier zugerufen, dass ich an seine moralische Unschuld glaube. Bleib jung, Chris!

Pedro Lenz ist Schriftsteller und lebt in Olten. Er ist 48 Jahre alt, aber an sehr guten Tagen fühlt er sich wie 47.