Sozialhilfeabbau: Gegen Arme, Kinder und Kranke
Der Kanton Bern kürzt die Sozialhilfe um zehn Prozent. Der von einer bürgerlichen Mehrheit durchgesetzte Beschluss könnte sich als Präzedenzfall für weitere Angriffe auf die Sozialhilfe erweisen.
In Zeiten knapper Finanzen dürfe es keine Tabus mehr geben, sagen die Berner KantonsparlamentarierInnen der SVP, FDP und BDP. Sie sagen das, nachdem der Regierungsrat diesen Sommer ein Sparpaket im Umfang von 491 Millionen Franken vorgeschlagen hat, über das im November beraten wird. Der geplante Kahlschlag im Behindertenbereich und in der Altenpflege sowie der Abbau von weit mehr als 600 staatlichen Stellen gehen der bürgerlichen Parlamentsmehrheit aber nicht weit genug. Sie hat deshalb Anfang des Monats erfolgreich eine Motion durchgebracht, die eine Kürzung der Sozialhilfe für Grundbedarf, Integrationszulagen sowie situationsbedingte Leistungen um insgesamt zehn Prozent fordert.
Der Regierungsrat plant nun, die beschlossenen Kürzungen überproportional bei den Zulagen zu tätigen. Eine alleinerziehende Mutter soll künftig nur noch 100 statt wie bisher 200 Franken Betreuungsgeld erhalten. Doch auch der sogenannte Grundbedarf wird von der Kürzung betroffen sein. Heute erhält eine alleinstehende Person in Bern für Lebensmittel, Kleider, Telefon, Strom und Freizeit 977 Franken monatlich – 9 Franken weniger als in der von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) festgelegten Richtlinie vorgesehen. Im Kanton Bern wird diese künftig noch weiter unterschritten werden. Das ist möglich, weil die Skos-Richtlinie nur empfehlenden Charakter hat, verbindlich wird sie erst durch die kantonalen Sozialhilfegesetze.
Urheber der Motion ist Ueli Studer (SVP), ein Mann «mit Herz» («Berner Zeitung»). Studer verdient als Gemeinderat von Köniz 188 000 Franken im Jahr. Für sein Engagement im Kantonsparlament erhält er weiter eine Entschädigung von netto 16 000 Franken. Bald werden es 23 600 Franken sein – Studer und seine KollegInnen gönnten sich kürzlich eine Erhöhung.
Für die WOZ war der SVP-Politiker nicht erreichbar. Er sei gerade in den Ferien und sehe keine Möglichkeit für ein Telefongespräch. Im Begleitschreiben zu seiner Motion enervierte er sich, dass man sich mit der Sozialhilfe einen angenehmen Lebensstil leisten könne. Gar als «stossende Ungerechtigkeit» empfindet Studer, dass einige Erwerbstätige weniger verdienen, als Erwerbslose von der Sozialhilfe erhalten.
Ein Problem von zu geringen Löhnen
Regula Unteregger, Leiterin des Sozialamts des Kantons Bern, überzeugen Studers Argumente nicht. Dass es SozialhilfeempfängerInnen «zu gut» gehe, sei eine falsche Vorstellung. «Die meisten leiden an ihrer Situation», sie würden sozial marginalisiert und hätten wie alle Armutsbetroffenen überdurchschnittlich viele gesundheitliche Probleme. Wenn Arbeitende weniger Geld als SozialhilfebezügerInnen zur Verfügung haben, sei dies natürlich stossend. Die Sozialhilfe orientiere sich aber am minimalen Bedarf der Leute. «Wenn es Löhne gibt, die den minimalen Bedarf nicht garantieren, ist es das Problem von zu geringen Löhnen und nicht von zu hohen Sozialleistungen», sagt Unteregger.
Auch vom Vorwurf des mangelnden Anreizes für einen Wiedereinstieg ins Erwerbsleben hält Unteregger wenig. Viele SozialhilfeempfängerInnen seien bereits erwerbstätig. Kinder, RentnerInnen, chronisch Kranke oder mit Betreuungsaufgaben bereits Ausgelastete wiederum zählten zu den «Nichterwerbspersonen». Lediglich ein Drittel der SozialhilfebezügerInnen sei theoretisch überhaupt vermittelbar. «Die Motion Studer trifft aber auch die Kinder und die Kranken», sagt Unteregger.
Kritische Stimmen kommen nicht nur aus der Verwaltung. Markus Troxler ist Sprecher der Skos-Allianz und Mitbegründer der Gruppe für Menschenwürde in der Sozialhilfe. Die Skos-Allianz bildete sich als Reaktion auf Studers Motion. Neben Troxlers Gruppe sind die Berner Sektionen des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks, von Avenir Social und des VPOD sowie mehrere Betroffenenorganisationen Mitglied bei der Allianz. Gemäss Troxler gestaltet sich der Widerstand aber schwierig: «Wir haben viel Energie darauf verwendet, prominente bürgerliche Grossräte zu finden, die die Motion ablehnen.» Schliesslich habe sich kein Einziger bereit erklärt, für die Sozialhilfe einzutreten. «Gar bekannte SP-Vertreter waren in ihrem Engagement eher zurückhaltend.» Troxler selbst findet deutliche Worte für den Berner Entscheid. «Nach der Kürzung wird es nicht mehr möglich sein, SozialhilfeempfängerInnen das verfassungsmässig garantierte Recht auf ein würdiges Leben zu ermöglichen.»
«Jetzt geht es ans Eingemachte»
Mit der Kürzung der Sozialhilfe setzt sich der Kanton Bern bewusst über die Skos-Richtlinien hinweg. Die von Fachleuten sowie VertreterInnen der Gemeinden und Kantone formulierten Richtlinien für die Sozialhilfe stehen auch andernorts unter Beschuss. Stéphane Beuchat, stellvertretender Geschäftsleiter vom Berufsverband der sozialen Arbeit Avenir Social, spricht gar von einer «orchestrierten Kampagne» gegen die Skos-Richtlinie und schliesslich gegen die Sozialhilfe.
Bisher bewirkte diese Kampagne indes relativ wenig. Drei Gemeinden sind zwar im Laufe des Jahres aus der Skos ausgetreten – Rorschach SG, Dübendorf ZH und Berikon AG –, dies hatte aber für die BezügerInnen bisher noch keine Auswirkungen.
Trotzdem sei dies eine beängstigende Entwicklung, sagt Beuchat. Bisher hätten die Angriffe auf die SozialhilfeempfängerInnen immer unter dem Stichwort «Missbrauch» stattgefunden. «Mit den Angriffen auf die Skos-Richtlinien geht es jetzt aber ans Eingemachte.» Er ist der Meinung, dass die Richtlinien schon heute am unteren Limit des Vertretbaren sind. Zudem gebe der Berner Entscheid den KritikerInnen nun Aufwind. In Zürich, Luzern und St. Gallen würden seither neue Vorstösse geplant.