Sozialhilfe: Stadtzürcher Sozialamt zockt Junkies ab

Nr. 19 –

Das von SP-Stadtrat Raphael Golta geführte Sozialdepartement kürzt Zulagen in einem Beschäftigungsprogramm. Als sich Betroffene wehren, heuchelt das Amt Machtlosigkeit und Bedauern vor. Jetzt kommt heraus: Die Kürzung geschah eigenmächtig und bewusst.

Etienne Sauterel: «Das ist ein Angriff auf unsere Würde. Wir Betroffenen kochen vor Wut.»

Etienne Sauterel* ist nudelfertig. In der vergangenen Nacht musste er mit ansehen, wie ein Bekannter verstarb. «Es war furchtbar», sagt Sauterel. Sein Bekannter war ein langjähriger Fixer. Als der herbeigerufene Notarzt kam, konnte er keine Venen finden. «Der Arzt musste mit einem Akkubohrer einen Anschluss ins Schienbein legen, um das Adrenalin übers Knochenmark in den Körper zu bringen.» Vor wenigen Stunden hat Sauterel erfahren, dass der Bekannte nicht durchgekommen ist.

Es ist nicht der erste Todesfall, den der 47-Jährige hautnah miterlebt hat. «Morde, Selbstmorde, Überdosen: Tote haben mein Leben stets begleitet», sagt Sauterel, der vor zwei Jahrzehnten in die Zürcher Drogenszene abgerutscht war. Gegen die Drogensucht kämpft er noch immer, mit Unterstützung von Medikamenten ist er seit elf Monaten clean und sein Leben so weit stabil. Er seufzt: «Immerhin ist mein Bekannter letzte Nacht nicht alleine gegangen.» Dann holt Sauterel ein Blatt Papier hervor.

Blasen an den Händen

«Anpassung der monatlichen Unterstützungszahlungen» steht auf diesem Blatt, und deswegen ist Sauterel trotz seiner «Horrornacht» auf die WOZ-Redaktion geeilt. Denn so traurig und müde er zurzeit auch ist, seine Wut ist stärker. Die Wut auf den Zürcher Regierungsrat, um genau zu sein. Dieser hat im letzten Dezember jene «Anpassung» beschlossen, die für Sauterel seit Anfang Mai unmittelbare Folgen hat: Sein Stundenlohn bei der «Jobkarte», dem niedrigstschwelligen Beschäftigungsprogramm für SozialhilfebezügerInnen der Stadt Zürich, beträgt künftig nur noch vier statt wie bisher sechs Franken. Der Entscheid des Regierungsrats geht zurück auf ein Postulat, das der Kantonsrat vor drei Jahren überwiesen hat.

«Bei der ‹Jobkarte› hacke ich oftmals Holz. Fünfeinhalb Stunden lang; hundertmal denselben Handgriff, bis ich Blasen an den Händen habe und Muskelkater: Und für diese Schufterei soll ich künftig noch knapp zwanzig Franken bekommen?», fragt Sauterel. Dabei gehe es ihm keineswegs nur ums Geld: «Ich empfinde die Kürzung als Angriff auf unsere Würde, auf unseren Stolz.» Für ihn sei klar, dass die bürgerlichen Parteien, allen voran die SVP, eine Jagd auf die Armen ausübten. «Ihr Kalkül ist, dass diejenigen, die eh schon am Boden liegen, sich nicht wehren. Wir haben auch keine Lobby, die für uns eintritt», sagt Sauterel. «Aber die betroffenen Leute kochen vor Wut.» So sehr, dass mehrere von ihnen im März eine Petition gegen die Kürzung ihres Stundenlohns lanciert haben. Über 800 Unterschriften haben sie in den letzten Wochen gesammelt. Mitte April ging die Petition beim Zürcher Sozialdepartement ein, das am 23. April folgende Antwort verfasste: «Wir bedauern den Entscheid des Regierungsrates, sind aber aufgrund der Rechtsverbindlichkeiten des Beschlusses gezwungen, den Entscheid umzusetzen.»

Unbegründete Kürzung

Doch das von SP-Stadtrat Raphael Golta geführte Sozialdepartement irrt sich: Der Entscheid des Regierungsrats hat wohl eine Kürzung innerhalb der Sozialhilfe zur Folge, aber diese betrifft die «Jobkarte» nicht. Das Stadtzürcher Sozialdepartement hat die Kürzung der Zulagen Sauterels und seiner KollegInnen eigenmächtig beschlossen – und das berechtigte Anliegen der Petition einfach ignoriert.

Die Kürzung innerhalb der Sozialhilfe, die der Zürcher Regierungsrat im letzten Dezember angeordnet hat, betrifft nämlich nur den sogenannten Einkommensfreibetrag. Den erhalten SozialhilfebezügerInnen, wenn sie einer Erwerbsarbeit nachgehen (vgl. «Bürgerliche Attacke» im Anschluss an diesen Text). Bei der «Jobkarte» handelt es sich hingegen um eine Integrationszulage, die sich an nicht erwerbstätige SozialhilfebezügerInnen richtet. Und diese Zulage ist von der beschlossenen Kürzung explizit nicht betroffen, wie der Pressesprecher der zuständigen kantonalen Sicherheitsdirektion festhält: Eine Kürzung der Integrationszulage sei nie die Absicht des Kantons gewesen. Im Gegenteil, der Kanton halte im Rahmen der Vernehmlassung der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) zur Änderung der Richtlinien für die Sozialhilfe ausdrücklich an dieser Zulage fest. «Die vorgenommene Kürzung ist ein politischer Entscheid der Stadt Zürich. Mit den Änderungen in der Weisung bezüglich Einkommensfreibetrag lässt sich die Kürzung nicht begründen.»

Das Sozialdepartement der Stadt Zürich hat aber genau das getan. «Hätten wir diese Anpassungen nicht gemacht, hätte sich das nicht rechtfertigen lassen», sagt der Pressesprecher des Sozialdepartements. «Eine Migros-Kassierin in der Sozialhilfe, die zu fünfzig Prozent arbeitet – also etwa achtzig Stunden pro Monat –, erhält nach dem Entscheid des Regierungsrates neu einen Einkommensfreibetrag von 200 statt wie bisher 300 Franken. Ein Klient in der «Jobkarte», der das Maximum von fünfzig Stunden pro Monat arbeitet, was bei einem Fünftel der Klienten der Fall ist, hätte ohne Kürzung 300 Franken erhalten. Er wäre damit deutlich besser gestellt als die Kassierin in meinem Beispiel.»

Diese Haltung und Argumentation stösst in der Sicherheitsdirektion auf Unverständnis: «Die Stadt hat ein eigenes System entwickelt, das mit den Skos-Richtlinien und Weisungen der Direktion nicht kompatibel ist.» Das Sozialdepartement gibt sich unbeeindruckt und hält trotzig an der Kürzung zulasten jener fest, die ohnehin schon kaum Boden unter den Füssen haben: psychisch Kranker, AlkoholikerInnen und Drogenabhängiger.

«Völlig kontraproduktiv»

Das Leben von Etienne Sauterel war schon früh ein Kampf. Als Sechzehnjähriger sass er für Monate in Untersuchungshaft. Er wurde verdächtigt, Mitglied der Winterthurer Autonomen Zellen zu sein, denen 1984 ein Sprengstoffanschlag auf das Haus des damaligen Bundesrats Rudolf Friedrich angelastet worden war. Der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt. Später zog Sauterel nach Zürich, wo er in der HausbesetzerInnenszene verkehrte. Als die Bewegung abflachte, begann er Anfang der neunziger Jahre, Heroin und Kokain zu konsumieren, und landete in der offenen Drogenszene auf dem Letten. Bald folgte die Endlosschlaufe von Sucht und Entzug. «Nüchtern regt mich einfach so viel auf in unserem System», sagt Sauterel.

Im Sommer 2003 musste er wegen diverser Einbruchsdelikte mehrere Jahre ins Gefängnis. «Der kalte Entzug im Knast war brutal, ich lag schlaflos auf der durchgeschwitzten Matratze.» Auch im Gefängnis blieb sein Leben eine Achterbahnfahrt: Ihm gelang ein mehrmonatiger «Ferienausflug», ein anderer Fluchtversuch scheiterte hingegen, ein Selbstmordversuch ebenso. Sauterel trainierte wie ein Verrückter, mit Hanteln aus PET-Flaschen, und er begann zu schreiben. Immer exzessiver. Als er aus der Haft entlassen wurde, lagen über 2800 hand- und maschinengeschriebene Seiten vor. Die WOZ hat Auszüge aus diesem Tagebuch veröffentlicht (siehe WOZ Nr. 24/2010 ). Es sind präzise Beobachtungen, in einer klaren und doch poetischen Sprache verfasst. So schrieb er über seine Fluchtgedanken im Gefängnis: «Wir alle hegten wohl, tief in uns verborgen, Fluchtabsichten, doch waren sie einer traurigen Ohnmacht gewichen und schlummerten in einem versteckten Winkel.» Sauterel ist noch immer dabei, sein Knasttagebuch in den Computer zu tippen.

Im Moment steckt er einen Grossteil seiner Energie jedoch in den Widerstand gegen die Kürzung des «Jobkarten»-Stundenlohns. Er hält den politischen Entschluss für «völlig kontraproduktiv». Wenn der finanzielle Anreiz derart tief sei, würden sich viele SozialhilfebezügerInnen zweimal überlegen, das «Jobkarten»-Angebot zu nutzen. «Dabei brauchen viele von uns eine Tagesstruktur, um aus der Sucht herauszufinden – so wie ich selbst auch. Und es ist wichtig, unter Leuten zu sein», sagt Sauterel. Die Folgen eines Rückfalls in die Sucht, wie etwa die Beschaffungskriminalität, kämen die Zürcher SteuerzahlerInnen auf jeden Fall viel teurer zu stehen als ihr bisheriger Stundenlohn, ist sich Sauterel sicher.

Dass ausgerechnet das Stadtzürcher Sozialdepartement, das in den Händen der SP liegt, in Eigenregie den «Jobkarten»-Stundenlohn kürzt und dafür auch noch eine falsche Begründung liefert, hält Sauterel für «umso trauriger und zynischer».

* Name geändert.

Sozialhilfe unter Druck : Bürgerliche Attacke

Wer Sozialhilfe bezieht und erwerbstätig ist, erhält einen sogenannten Einkommensfreibetrag (EFB) auf sein Lohneinkommen. Ein Teil des Lohns wird also nicht mit der Sozialhilfe verrechnet, sondern steht «als Bonus zur freien Verfügung», wie die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) festhält.

Die Kürzung dieses Einkommensfreibetrags im Kanton Zürich geht auf ein Postulat der KantonsrätInnen Claudio Schmid (SVP), Linda Camenisch (FDP) und Hans Egli (EDU) zurück, das der rechtsbürgerlich dominierte Kantonsrat gegen den Willen der Zürcher Regierung angenommen hat. Die PostulantInnen rechtfertigen die Kürzung mit dem sogenannten Schwelleneffekt: Es gebe Situationen, in denen Haushalte ohne Sozialhilfe ein geringeres frei verfügbares Einkommen aufweisen als Haushalte mit Sozialhilfe, wenn diese zusätzlich zur materiellen Grundsicherung noch finanzielle Zulagen erhalten.

Wie gross dieser Schwelleneffekt tatsächlich ist, lässt sich mit den aktuell zur Verfügung stehenden Daten nicht genau quantifizieren. Bekannt ist hingegen, dass im Kanton Zürich von 23 000 Sozialhilfe-Unterstützungseinheiten 1400 einen EFB erhielten und davon gerade einmal 232 den Maximalbetrag von 600 Franken; nur ein hoher EFB-Betrag hat auch einen Schwelleneffekt zur Folge.

Anfang dieser Woche erfolgte im Kantonsrat eine weitere rechtsbürgerliche Attacke auf die Sozialhilfe, und wiederum war Linda Camenisch federführend. Sie forderte in einer Motion, dass Zürich die Skos-Richtlinien nicht mehr einhalten müsse. Ihr Anliegen scheiterte letztlich klar.

Die WOZ hat Camenisch auf den Fall der «Jobkarten»-Kürzung in der Stadt Zürich (vgl. Haupttext) angesprochen: «Mir ist völlig unverständlich, wieso Stadtrat Raphael Golta einen Zusammenhang zwischen der beschlossenen Kürzung des Einkommensfreibetrags und der Integrationszulage herstellt.» Sie sei verwundert über dieses «Vorpreschen». jj