Medientagebuch: Revolverblätter in Angst

Nr. 42 –

Peter Stäuber über die britische Presseregulierung.

Ganz schön verwirrend. Die rechte britische Boulevardzeitung «Daily Mail» sieht sich als Kämpferin für die Pressefreiheit: Ohne eine freie Presse, so schreibt sie, könnten die Mächtigen nicht zur Verantwortung gezogen werden, Korruption würde grassieren, die demokratische Gesellschaft untergehen. In der Affäre um die Enthüllungen Edward Snowdens hat das gleiche Blatt aber noch letzte Woche die Argumentation des britischen Geheimdienstchefs übernommen und dem linksliberalen «Guardian» vorgeworfen, «die Grenze überschritten» und in einem Akt «tödlicher Verantwortungslosigkeit» die Sicherheit des Landes gefährdet zu haben. Ihre eigene Pressefreiheit nutzte die Zeitung lieber, um sich mit einem weniger Furcht einflössenden Gegner einzulassen: dem toten Vater des Labour-Vorsitzenden Ed Miliband, zu Lebzeiten ein prominenter Marxist. «Daily Mail» nannte ihn den «Mann, der Grossbritannien hasste». Es ist nicht der einzige Fall, in dem das Blatt sonderbare Prioritäten hat.

Die rechte Presse in Britannien ist in Aufruhr. Gut zwei Jahre nach Ausbruch des Abhörskandals um Rupert Murdochs «News of the World» steht der Privy Council (der britische Kronrat) kurz vor einem Entscheid zur Presseregulierung, um Verletzungen der Privatsphäre robuster zu ahnden. Aller Voraussicht nach wird das überparteiliche Gremium Ende Oktober einer Version jenes Vorschlags zustimmen, den das Parlament im Frühjahr ausgehandelt hatte: die Errichtung eines neuen, unabhängigen Kontrollorgans, das die Zeitungen bei Fehlverhalten zu Entschuldigungen und prominent platzierten Richtigstellungen zwingen sowie Geldstrafen von bis zu einer Million Pfund (etwa 1,45 Millionen Franken) verhängen kann. Konservative Blätter wie «Daily Mail», «Times», «Daily Telegraph» und «Sun» sehen darin das Ende von 300 Jahren Pressefreiheit.

Das ist Unsinn. Erreicht würde mit der Regelung wohl die Stärkung der Beschwerderechte von Individuen (meist von Prominenten aller Art, deren spektakulär uninteressanter Alltag von der britischen Presse obsessiv verfolgt wird) sowie schwächeren Gesellschaftsgruppen: etwa der in den rechten Medien mit Regelmässigkeit attackierten Asylsuchenden. Die wirkliche Aufgabe von JournalistInnen, nämlich ein scharfes Auge auf Eliten aus Politik und Geschäftswelt zu werfen und die BürgerInnen mit unabhängigen Informationen zu versorgen, würde überhaupt nicht tangiert.

Richtig ist aber, dass die neue Presseregulierung eines der Hauptprobleme nicht lösen kann: die Konzentration der Medien in den Händen weniger Konzerne und Individuen. Denn beim Murdoch-Skandal ging es nicht nur um das Abhören von Telefongesprächen und die Lektüre von privaten SMS – es ging um die Korruption eines Systems, in dem politische Elite, Presse und Polizei unter einer Decke steckten, Informationen austauschten und Verbrechen vertuschten. Solange wenige Konzerne die Medien dominieren, wird die Gefahr bestehen, dass sie auch die Politik bestimmen. Bei den britischen Tageszeitungen beherrschen vier Verleger mehr als drei Viertel der Auflage (in der Schweizer Presse beherrschen vier Verlage neunzig Prozent der Auflage, Anm. der Redaktion). Für eine funktionierende Demokratie müssen die BürgerInnen jedoch Zugang haben zu einer Vielfalt von Meinungen, und das setzt eine stärkere Beschränkung des Anteils an Medienoutlets voraus, die ein einzelnes Unternehmen besitzen darf. Gemäss Meinungsumfragen wäre das eine sehr populäre Massnahme.

Peter Stäuber schreibt für die WOZ 
aus London.