USA: Der Shutdown als gewaltiges Ablenkungsmanöver

Nr. 43 –

Die Regierungsblockade in den USA ist beendet, die Schuldenobergrenze wurde angehoben, und die Gesundheitsreform bleibt unangetastet. Doch die Rechte siegt, selbst wenn sie verliert.

Nur ein toter Indianer sei ein guter Indianer, soll der US-Offizier Philip Sheridan gesagt haben, der die Ausrottung von Amerikas UreinwohnerInnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohne Rücksicht auf Verluste vorantrieb. Nur ein toter oder zumindest ein schwacher Staat sei ein guter Staat, behaupten die RechtspopulistInnen in den USA, die die jüngste Regierungskrise bewusst herbeigeführt haben.

Die US-AmerikanerInnen sind grossmehrheitlich anderer Meinung. Bei aller Staatsverdrossenheit wissen sie nämlich einen verlässlichen Service public zu schätzen. Der ertrotzte Shutdown, der Stillstand im öffentlichen Bereich, hat die Tea Party und die RepublikanerInnen viel Popularität gekostet. Für Präsident Barack Obama und die Demokratische Partei ist das Verhandlungsergebnis jedoch bestenfalls ein Pyrrhussieg. Denn gelitten hat in den letzten Wochen auch die Legitimität des ganzen politischen Systems. Die wachsende Distanz zwischen Bevölkerung und Parlament ist schlecht für eine lebendige Demokratie.

Denn wie sollen die US-BürgerInnen einem Kongress vertrauen, der fast eine Million Staatsangestellte in den unbezahlten Urlaub schickte, den Abgeordneten aber das volle Gehalt auszahlte – und sogar das luxuriöse kongresseigene Fitnesszentrum durchgehend offen hielt, weil er es als «essenziell», als unerlässlich für den Fortbestand der USA einstuft? Wie sollen sie eine Regierung respektieren, die auch während der Krise die Überwachung ihrer eigenen Bevölkerung ohne Abstriche weiterführte und nur gerade an der gesetzlich vorgeschriebenen Offenlegung dieser Aktivitäten spart? Die US-Militärführung hatte während des Shutdown sogar zusätzliche Antiterrorismuseinsätze organisiert, um zu beweisen, dass die Supermacht trotz Regierungskrise militärisch schlagkräftig bleibt.

Gleichzeitig wurden im ganzen Land Nahrungsprogramme für bedürftige Kinder und SeniorInnen eingestellt. Frauenhäuser mussten schliessen, obwohl in den USA jeden Tag drei Frauen durch häusliche Gewalt umkommen. Vielen Arbeitslosenprogrammen, psychiatrischen Tagesbetreuungen und Schadstoffkontrollen wurde während des Regierungsstillstands der Geldhahn zugedreht. Betroffen waren nicht zufällig jene Sozialprogramme, die die politische Rechte ohnehin am liebsten ersatzlos streichen möchte.

Teurer Stillstand

Die Regierungskrise und die erzwungene Ausgabensperre hatten jedenfalls wenig bis nichts mit Finanzpolitik, mit dem Budget und mit Verschuldung zu tun. Gespart wurde gar nichts, denn das Schliessen und Wiederöffnen von Institutionen und Programmen ist immer mit Zusatzkosten verbunden. Der Politpoker kostete gemäss Schätzungen der Ratingagentur Standard & Poor’s 24 Milliarden US-Dollar; die Wachstumsprognose für das letzte Quartal 2013 wurde von 3 auf 2,4 Prozent gesenkt.

Vier Fünftel der Staatsgelder, monatlich rund 250 Milliarden Dollar, sind fixe Ausgaben. Sie werden für die nationale Sicherheit und die grossen Sozialwerke aufgewendet – für Social Security (Altersvorsorge), Medicare (Einheitskasse für US-AmerikanerInnen über 65) und Medicaid (Gesundheitsvorsorge für Bedürftige) – und waren von der Blockade nicht betroffen. Den RepublikanerInnen blieb also bloss ein politisch motiviertes Knabbern an der weniger fest verankerten, aber im Nachgang zur Krise für viele Menschen lebensnotwendigen Sozialhilfe. Der Shutdown war ein «Krieg gegen die Armen» (so das linke Wochenmagazin «The Nation»), zumindest aber eine fiese Strafaktion von Leuten, die ihre Schäflein (etwa die Kongressgehälter) im Trockenen haben.

Sozialwerke bald in Geiselhaft?

Bereits im Februar 2014 steht die nächste Runde in der Diskussion über die Höhe der US-Staatsschuld an – und die Rechte droht mit einem ähnlichen Szenario, ausser dass diesmal nicht mehr die Gesundheitsreform «Obamacare», sondern die Sozialwerke selbst in Geiselhaft genommen werden sollen. Es sei denn, die republikanische Parteimitte trennt sich bis dahin von ihrem radikalen Tea-Party-Flügel. Dabei ist die andauernde «dringliche» Schuldendebatte ein gewaltiges Ablenkungsmanöver der Opposition: Die Defizitreduktion ist bereits auf gutem Weg. Präsident Obama weist stolz darauf hin, dass die Staatsschulden zurzeit so schnell abnehmen wie bisher nur während der Demobilisierung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Noch mehr Sparen wäre widersinnig. Angesichts der zwanzig Millionen Menschen, die immer noch eine Vollzeitstelle suchen, angesichts der niedrigen Zinsen und angesichts einer lange vernachlässigten öffentlichen Infrastruktur, die dringend repariert und ausgebaut werden muss, braucht es nicht weniger, sondern mehr Staatsausgaben.

Das ist allerdings nur möglich, wenn auch die Staatseinnahmen wachsen. Und das genau ist der springende Punkt beim Polittheater in Washington DC: Es geht um Steuern und sonst um gar nichts. Und zwar um Steuererhöhungen für die Reichen, für die RepublikanerInnen ein absolutes Tabu. Dagegen kämpfen sie mit allen Mitteln, vor allem mit Ausgabenkürzungen in Milliardenhöhe. Durch die jetzige Einigung ist nun eine pauschale Schuldenbremse in Form des «Sequester» genannten linearen Spardiktats (siehe WOZ Nr. 16/13 ) zur Normalität geworden.

Die Wahlkreismanipulation

Wollen Obama und die Linke Sozialwerke und Umweltschutz, die öffentlichen Schulen und Spitäler, Strassen und Pärke erhalten, kommen sie um eine Steuerreform nicht herum. Bei den Wahlen im Herbst 2012 gaben die WählerInnen den Segen zu diesem politischen Kurs. Allerdings verzerrt das bizarre Wahlsystem die Vertretung der BürgerInnen im US-Kongress. Obwohl die demokratischen KandidatInnen für das Repräsentantenhaus insgesamt 1,7 Millionen mehr Stimmen erhielten, dominiert in der grossen Kammer die Republikanische Partei. Die eigennützige Manipulation der Wahlbezirke durch die dort jeweils regierende Partei (vgl. «Gerrymandering») korrumpiert den Willen des Volks.

Immerhin ist jetzt der US-Bundesstaat Kalifornien mit gutem Beispiel vorangegangen und hat seine Wahlbezirke politisch neutral festgelegt. Angesichts der demografischen Entwicklung liegt es im Interesse der demokratischen Partei, die Reform des politischen Systems im ganzen Land voranzutreiben, damit auch wirklich alle BürgerInnen eine Stimme haben, die zählt. Die Rechnung ist einfach: Ohne eine solche Wahlreform gibt es vermutlich keine Steuerreform. Ohne Steuerreform gibt es keinen ausgeglichenen Staatshaushalt. Und der nächste Shutdown ist bloss eine Frage der Zeit.

Gerrymandering

Vor rund 200 Jahren grenzte der gewitzte Bostoner Politiker Elbridge Gerry seinen Wahlkreis so ein, dass ihm bei seiner Wiederwahl der Gouverneursposten sicher war. Das Resultat war ein grotesk geformter Wahlbezirk, der einem Salamander ähnelte. Die «Boston Gazette» veröffentlichte 1812 eine Karikatur dieses Gebildes, das fortan Gerrymander hiess.

Das in den USA praktizierte Gerrymandering sorgt auf Basis des Mehrheitswahlrechts dafür, dass Stimmen für oppositionelle Parteien oft verfallen. Es beschneidet also die Wahlfreiheit der BürgerInnen.