Fussball und andere Randsportarten: Die ewige Kindheit

Nr. 44 –

Kopfbälle und Kirschensaft.

Zuweilen schauen wir in den Spiegel und stellen voller Verwunderung fest, dass wir älter geworden sind. Gegen die Zeit kommt niemand an, niemand, ausser dem Fussball. Jedes Fussballspiel ist eine Zeitinsel. Sobald ein Ball über den Rasen rollt, versetzt er alle Beteiligten zurück in die Kindheit. Wer dem Ball nachläuft, vergisst die Zeit und wird unabhängig von seinem Alter wieder zum Kind. Deswegen ist der Fussball ein ewiger Jungbrunnen.

Wie sich diese phänomenale Verwandlung des erwachsenen Menschen zum selbstvergessenen Kind im konkreten Fall äussern kann, lässt sich anhand einiger Vorkommnisse der letzten Wochen aufzeigen. Da war zunächst das Phantomtor des Bundesligastürmers Stefan Kiessling. Der Star von Bayer Leverkusen köpfte in einem Meisterschaftsspiel gegen Hoffenheim einen scharfen Ball knapp neben das Tor. Danach verhielt er sich, wie sich jeder Fussballer auf der ganzen Welt verhält, wenn er eine Chance versiebt. Er drehte sich ab und hielt die Hände an den Kopf, als wollte er sagen: «Tamminondediö, sooo knapp!» Aber dann schlüpfte der Ball auf der Aussenseite durch das defekte Netz doch noch ins Tor und blieb dort liegen. Der Schiedsrichter, der offenbar nicht gesehen hatte, dass Stefan Kiesslings Kopfball daneben geflogen war, sah nun den Ball im Kasten ruhen und gab das Tor. Als Kiessling merkte, dass das Tor zählte, begann er erst sehr zögerlich und dann etwas entschiedener mit seinen Teamkollegen zu jubeln.

Wie das Kind, das sein Gesicht mit den Händen verbirgt und dann meint, weil es selbst nichts sieht, werde es auch von allen andern nicht mehr gesehen, stellte der Fussballstar die erlebte Wirklichkeit einfach beiseite, um sich der gewünschten Wirklichkeit hinzugeben. Und als er nach dem Spiel gefragt wurde, ob er denn nicht selbst gesehen habe, wie deutlich der Ball danebengegangen war, log er, ohne rot zu werden. Seine Aussage, er habe nicht genau gesehen, ob der Ball rein sei oder nicht, stand in krassem Widerspruch zu seiner Körpersprache unmittelbar nach dem Kopfball. Er log wie das Kind, dessen Mund und Hände von Kirschensaft rot eingefärbt sind und das behauptet, es habe keine Kirschen gestohlen.

Genau wie Stefan Kiessling haben wir als Kinder jeweils behauptet, dieser oder jener Schuss sei rein, selbst wenn wir genau wussten, dass es nicht stimmte. Dahinter stand nie eine böse Absicht, sondern immer nur der kindliche Glaube, die Realität sei verhandelbar.

Eine weitere Szene, die mich vor wenigen Tagen an die eigene Kindheit erinnerte, spielte sich beim Spiel von Bayern München gegen Mainz 05 ab. Die Bayern erhielten einen Penalty zugesprochen. Arien Robben nahm den Ball an sich, um den Strafstoss auszuführen. Da sah er, dass auch sein Mitspieler Thomas Müller den Penalty treten wollte. Eine Weile stritten die beiden Kollegen darum, wer nun schiessen darf. Dann entschied der Cheftrainer mit einem Handzeichen von der Seitenlinie, Müller sei der Schütze. Robben, der das Leder noch in den Händen hielt, schmollte erst wie ein Schulbube und warf dann den Ball voller Trotz und Ärger auf den Rasen.

Die geschilderten Spielsituationen zeigen auf, dass erwachsene Menschen zu Kindern regredieren, sobald sie Fussball spielen. Im Fall des Phantomtors von Stefan Kiessling wurden wieder Stimmen laut, es brauche unbedingt eine elektronische Toranzeige, um solche Szenen künftig zu verhindern. Doch solche Forderungen verkennen die Natur des Spiels. Der Fussballsport ist nur deswegen auf der ganzen Welt beliebt, weil er uns jeweils für neunzig Minuten die Kindheit zurückbringt. Alle Beteiligten, egal ob auf dem Rasen oder auf den Rängen, fühlen sich während eines Fussballspiels zurückversetzt in eine Zeit, in der das Leben ähnlich unkompliziert war wie ein Kick unter Kindern. Das ist der Peter-Pan-Effekt des Fussballs.

Pedro Lenz ist Schriftsteller und lebt in Olten. In seiner Kindheit dienten beim Fussball 
am Boden liegende Schulsäcke als 
supponierte Torpfosten, sodass die meisten Goals Interpretationssache waren.