Ernst Scheidegger: Die Realität als flüchtiger Augenblick

Nr. 47 –

Ernst Scheideggers Arbeiten bezeugen, dass Fotos als «zweites Gedächtnis» den Blick auf die Welt verändern. Nun feiert er seinen 90. Geburtstag.

Mit leisem Auftreten und Toscano rauchend in die Ateliers von Joan Miró oder Alberto Giacometti: Fotograf, Redaktor und Gestalter Ernst Scheidegger.

Der Fotoapparat war für Ernst Scheidegger ein wichtiger Türöffner. Wenn der Bildreporter in der grossen, weiten Welt nicht mehr weiterwusste – so geschehen in Ägypten, als er Aga Khan partout nicht vor die Linse bekam –, half bei der Agentur Magnum Robert Capa von Paris aus weiter. Dieser kannte Khans Sekretärin, rief sie an: Et voilà, schon stand das Oberhaupt der IsmailitInnen, durch die dunklen Gläser der runden Sonnenbrille in die Kamera blickend, den Hut schief auf dem Kopf, im Wintermantel gekleidet, bereitwillig vor den Pyramiden von Gizeh: Das Bild für die Zeitschrift «Paris Match» war im Kasten – gesehen mit dem Temperament des Fotografen.

Atelierbesuche

Andere Welten entdeckte der Fotoreporter in den Ateliers namhafter Künstler des 20. Jahrhunderts wie Joan Miró, Fernand Léger, Bernhard Luginbühl, Varlin und allen voran Alberto Giacometti. Matchentscheidend für den Zugang zu den Kreativen war Scheideggers Feingefühl. Sein leises Auftreten – nicht nur wegen des besonders geräuscharmen Auslösers seiner Leica-Kamera – und seine «schöpferische Neugier», wie es Hugo Lötscher auszudrücken wusste, öffneten ihm Tür und Tor. «Diesen Menschen Ernst Scheidegger liebten alle grossen Künstler unserer Zeit», schrieb Jürg Federspiel in seinen «Zeilen eines neidischen Bewunderers». Und wenn Scheidegger weiterarbeitete, obwohl Magnum monierte, so viele Bilder könne sie kommerziell gar nicht verwerten – bei seinen Besuchen im Pariser Atelier von Giacometti gab er Henri Cartier-Bresson die Klinke in die Hand –, folgte er einer inneren Stimme. «Meine Obsession hat sich gelohnt», konstatierte er 1999 im Vorwort seines Buchs «Einblicke».

1958 war Scheidegger Herausgeber des ersten deutschsprachigen Buchs mit Zeichnungen von Giacometti und eigenen Fotografien im Arche-Verlag. «Jean Genet: Alberto Giacometti», die erste Publikation in seinem 1962 gegründeten Verlag Ernst Scheidegger, ist zum Klassiker geworden und noch heute in unveränderter Form erhältlich. Der 1990 erschienene Bildband «Spuren einer Freundschaft» mit Fotografien der Begegnungen im Bergell und in Paris bildet die Essenz der über zwei Dekaden – bis zum Tod Giacomettis – dauernden Sympathiebekundungen. Dieses Jahr ist der Band, mit Farbfotografien ergänzt, bei Scheidegger & Spiess, wie der Verlag jetzt heisst, neu aufgelegt worden.

Den Zufall nutzen

Er habe zu viele Bücher gemacht, sagt der bald neunzigjährige Scheidegger am grossen Arbeitstisch seiner lichtdurchfluteten Wohnung im Zentrum Zürichs. Aber kein einziges seiner Künstlerbücher war eines zu viel. Glück hatte er immer wieder im Leben, das nach seiner Einschätzung aus einer Reihe von Zufällen bestand. Der frühe Tod seines besten Freunds und grössten Vorbilds Werner Bischof und derjenige seines Kollegen Robert Capa im Mai 1954 waren harte Schicksalsschläge für ihn. Der Traum von gemeinsamen Filmprojekten zerstob.

Scheidegger verliess Magnum, arbeitete als Dozent zusammen mit Max Bill und wechselte schliesslich zur Wochenendbeilage der NZZ, wo er als Nachfolger von Gotthard Schuh während fast dreissig Jahren Bildredaktor war. Seine 200 eigenen Reportagen und die vielen Arbeiten von KollegInnen, die während seiner Ägide entstanden, haben Lötscher wohl zur Einschätzung bewogen, Scheidegger habe in unserem Land auf das eingewirkt, was man nach 1945 visuelle Kommunikation nannte, und sei mitverantwortlich für die Ausbildung des ästhetischen Gewissens unseres optischen Bewusstseins.

Der blaue Hunderter

Der Fotograf Scheidegger war auch Ausstellungsmacher, Gestalter, Galerist, Cineast und Maler. Die vielen Rollen trugen dem begnadeten Vermittler den Ruf des Hansdampfs in allen Gassen ein. In Tat und Wahrheit war er aufgrund seiner soliden Ausbildungen den Aufgaben sehr wohl gewachsen: Nach der Lehre als Schaufensterdekorateur war es an der Kunstgewerbeschule Zürich Hans Finsler, bekannt für seine formale Strenge, der Scheideggers Auge schulte. Alfred Willimann verstand es, ihn für die Schriftgestaltung und die angewandte Fotografie zu begeistern, und das Konzipieren komplexer Ausstellungen lernte er in der Zusammenarbeit mit Max Bill. Dass die Früchte seines Lebens Gold wert sind, hat auch der Kanton Zürich erkannt und ihn vergangenes Jahr mit einer Ehrenmedaille ausgezeichnet. Mit einer blauen Hunderternote im Portemonnaie tragen wir Scheideggers geistiges Eigentum mit uns: Die Porträtfotografie Giacomettis stammt von ihm.

«Mer wird älter», stellt Scheidegger, genussvoll einen Toscano rauchend, fest. Umberto Eco bezeichnet Fotografien als «kulturelle Erinnerung», «objet trouvé» nennt Scheidegger seine eigenen Bilder. Die Welt, die er vorfand, weil sie ihn interessierte, hielt er für uns fest, und viele seiner Bilder haben sich uns eingeprägt. Seine Arbeiten bezeugen, dass Fotos als «zweites Gedächtnis» den Blick auf die Welt verändern. Scheideggers Realitäten sind zufällige, flüchtige Augenblicke: kostbare Schnäppchen aus längst vergangenen Zeiten. Reminiszenzen vom Feinsten.

Anlässlich des 90. Geburtstags von Ernst Scheidegger zeigt das Kunsthaus Zürich bis Mitte März 2013 eine Auswahl seiner Fotografien neben den Werken von Alberto Giacometti.

Monica Boirar (eigentlich Monica Beurer) ist Fotografin, Dozentin für Fotografie und Autorin.