Hyperdub: Aktuelles aus dem Tieftonbereich
Kode9 hat mit Hyperdub eines der interessantesten Labels unserer Tage aufgebaut. Es dokumentiert seit knapp zehn Jahren die musikalischen und geografischen Entwicklungen der jüngsten elektronischen Bassmusik.
Als Virus bezeichnete Steve Goodman alias Kode9 vor einigen Jahren sein Label Hyperdub. In der Geschichte von Dub und Reggae wird Musik oft als Virus beschrieben. Hyperdub startete als Mutation von elektronischer Musik aus Grossbritannien; es befiel die «Erbzellen» von Dub, Reggae, Garage, Jungle, Drum and Bass und Grime und liess diese in Verwendung von technisch hoch entwickelten Soundsystems in veränderter Form weiterleben.
Kode9, der Professor für «sonische Kultur», Autor, DJ und Produzent, gibt sehr klar zu verstehen, dass sein Label nicht an Marketingstrategien interessiert ist, aber trotzdem die Musik einem breiteren Publikum zugänglich machen will.
Fixpunkt London
Vor diesem Hintergrund lassen sich die Wandlungen und die Entwicklung des mittlerweile renommierten englischen Labels besser erklären. Welche unterschiedliche Gestalten der Hyperdub-Virus angenommen und wie weit er sich verbreitet hat, zeigt sich anhand der Veröffentlichungen der letzten Monate: fragiler Pop der Kanadierin Jessy Lanza, «Double Cup», das Meisterwerk des aus Chicago stammenden DJ Rashad, das dem Genre Juke oder Footwork zugerechnet wird, sowie das zweite Album von Laurel Halo, der wohl irritierendsten musikalischen Erbin des Detroit Techno. Schnell wird klar: So klingt elektronische Bassmusik Ende 2013. Und: Die jüngsten Ableger dieses Sounds sind auf der musikalischen Landkarte nicht nur auf der britischen Insel, sondern weltweit zu finden. Dabei wachsen Londons Plattenfirmen, Magazine und Radiostationen zu wichtigen Drehpunkten heran.
Speziell in der Entwicklung von Footwork und Juke ist London nicht mehr wegzudenken. Dort spielen DJ Rashad und sein Partner DJ Spinn ihre ersten Sets ausserhalb der USA und bleiben während der ersten Europatouren einige Wochen dort. Bei einem gemeinsamen Gastspiel, organisiert von Radio Rinse.fm, lernen sich Kode9 und DJ Rashad kennen, das erste EP-Release ist gleich beschlossene Sache.
Detroits Erbe
Nach einer weiteren EP beim Label Hyperdub liegt nun «Double Cup» von DJ Rashad vor, das wohl stärkste Juke- oder Footwork-Album, seit die Musik aus Chicago zum Genre geworden ist. Hier sind die irre schnellen Nachfolger der Ghetto-House-Szene: rasende 160 Beats pro Minute und dem Rap, Rhythm and Blues und Pop entlehnte, zerstückelte und sich ständig wiederholende Catchphrases. Zerhackte Snare Rolls, wie Bombeneinschläge knallende Subbasstriolen prägen den rohen, hypnotischen Sound auf Chicagos Strassen.
Der gefeierte Juke-DJ, der mit bürgerlichem Namen Rashad Harden heisst, hat sein Debütalbum nach einem Clubgetränk aus Codein und Sprite benannt. Und so klingt es auch: vorantreibend, aufputschend, ekstatisch. DJ Rashads Produktionen gehen hier aber weit über die gängigen Footwork-Produktionen hinaus, auffallend sind auch die Einflüsse seiner Londonaufenthalte. Jungle- und Acid-House-Reminiszenzen tauchen in allen vierzehn Tracks des Albums auf. So offen, so ausgearbeitet, so vielfältig hörte sich bisher noch kein Juke-Album an.
Wie klingen die musikalischen ErbInnen des Detroit Techno Ende 2013? Eine der möglichen Antworten liefert Laurel Halo mit «Chance of Rain», ihrem jüngst erschienenen zweiten Longplayer auf Hyperdub. Die aus dem Detroiter Vorort Ann Arbor stammende Produzentin liefert in ihrer bisher kurzen Karriere ihren ganz eigenen Entwurf der musikalischen Rezeptionsgeschichte der Motor City ab. Ina Cube, wie Laurel Halo mit richtigem Namen heisst, knüpft dabei an die Strategie ihres Vorgängers «Quarantine» an. Sie spielt mit Ambivalenzen, verbindet die Gegensatzpaare Echtheit und Künstlichkeit, Wirklichkeit und Illusion, Intimität und Unnahbarkeit.
Unterhält man sich mit Halo, wird dieser Eindruck noch verstärkt. Sie ist anmutig und gefährlich zugleich, strahlt Ruhe und Unberechenbarkeit aus. Zwischen ruhiger Kontemplation und völliger Entrücktheit pendeln dementsprechend ihre Songbruchstücke, die in Richtung Techno und House gehen – aber immer nur in der Geste einer versteckten Referenz.
Torontos R-’n’-B-Export
Ganz anders verhält es sich bei dem Debütalbum «Pull My Hair Back» der Kanadierin Jessy Lanza. Anstatt einen musikalischen Gegenentwurf zum aktuellen Popgeschehen zu liefern, spielt sie Pop einfach besser, intelligenter, berührender. Lanza hat sich mit ihrem Jugendfreund Jeremy Greenspan von den Junior Boys zusammengetan und während zweier Jahre in Hamilton, einer Stadt in der Nähe von Toronto, an ihrem Debüt gearbeitet.
Vor über zehn Jahren liess sich Greenspan für seine ersten Produktionen stark von den damals neuen Genres Garage und Two Step beeinflussen. Er gab deshalb Kode9 vor längerer Zeit den Auftrag, einen Junior-Boys-Song zu remixen. Diese britischen Sounds – gepaart mit sehr viel R ’n’ B und Pop – hallen nun in den gemeinsamen Aufnahmen mit Lanza wie Echos aus der Vergangenheit nach. Dass sich nun ihr Debütalbum bei Hyperdub findet, ist in der Entwicklungsgeschichte des Labels folgerichtig. Auf «Pull My Hair Back» finden sich fragile Pop- und R-’n’-B-Songs, die ganz ohne Glamour auskommen, dafür einfache, zwischenmenschliche Beziehungen zur Sprache bringen. Ein grosser Wurf, der an Cooly Gs viel gelobtes, letztes Jahr ebenfalls bei Hyperdub erschienenes R-’n’-B-Album «Playing Me» anknüpft.