Die EU-Frage: Micheline Calmy-Reys unerhörter Vorschlag
Zugegeben, der Zeitpunkt, den Altbundesrätin Micheline Calmy-Rey für die Publikation ihres Buchs «Die Schweiz, die ich uns wünsche» ausgesucht hat – darin plädiert sie für einen EU-Beitritt – war nicht optimal. Eine Woche vor der Abstimmung über die SVP-Einwanderungsinitiative hat sie bei jenen, die befürchten, von der EU gefressen zu werden, zusätzlich Angst geschürt. Sie könnten nun erst recht ein Ja auf ihren Abstimmungszettel schreiben wollen.
Immerhin wagt es mit Calmy-Rey – wie schon Altbundesrätin Ruth Dreifuss, die sich in der WOZ kürzlich für einen Beitritt aussprach – eine prominente Figur, klar Position zu beziehen. Es könnte die Eröffnung einer Debatte sein, die seit dem Sieg von SVP-Nationalrat Christoph Blocher in der EWR-Abstimmung 1992 unter dem Deckel gehalten wird, jedoch überfällig ist: Führt der bilaterale Weg nicht in eine Sackgasse, wie Calmy-Rey glaubt? Verlieren wir als Nichtmitglied nicht zunehmend an Souveränität? Und was ist vom Vorschlag eines Beitritts zu einer EU light zu halten, wie sie laut Calmy-Rey entstehen könnte?
Was auf Calmy-Reys Avance folgte, war die Reaktion eines Landes, das noch immer von der SVP vor sich hergetrieben wird; wäre das Buch eine Woche später erschienen, wäre die Debatte kaum anders ausgefallen. CVP-Präsident Christophe Darbellay warf ihr in der «SonntagsZeitung» vor, Bundesrat Didier Burkhalters Bemühungen für neue Verträge mit der EU zu «torpedieren», FDP-Präsident Philipp Müller sprach von einem «Rückenschuss für Bundesrat und Parlament». Wenn der Bundesrat gegen aussen verhandelt, dann ist jegliche gelebte Demokratie im Innern eine Kriegserklärung an das Land.
Ähnlich war die Reaktion vieler Medien. Der «Tages-Anzeiger» etwa schlug der Altbundesrätin mit dem verbalen Schlagstock auf den Kopf: Nicht nur der Zeitpunkt der Publikation sei eine Provokation, um den Absatz zu fördern, sondern ebenso die dort vertretene inhaltliche Position. Peng. Debatte geschlossen. Die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher antwortete einst auf die Frage nach ihrem grössten Erfolg: dass auch Labor nun den Wirtschaftsliberalismus predigt. In der Frage der EU könnte Blocher dasselbe für fast das gesamte Land behaupten.