Wirtschaftsabkommen: Die Lüge der Nation
Bundesrat Didier Burkhalter will mit der EU neue bilaterale Verträge aushandeln. Sein Plan ist mutlos.
Die Schweiz belügt sich selbst. Und inzwischen ist diese Lüge von der SVP bis tief in die Linke verbreitet, sodass kaum jemand mehr weiss, wer damit angefangen hat.
Bundesrat Didier Burkhalter hat einen Plan vorgelegt, wie er die EU dazu bringen will, einen neuen Stapel bilateraler Wirtschaftsabkommen zu unterzeichnen. Die Verhandlungspositionen sind bekannt: Der Bundesrat hat die Souveränität der Schweiz für sakrosankt erklärt. Brüssel seinerseits ist nur an weiteren Verträgen interessiert, wenn die Schweiz neues EU-Recht in den Bereichen der Abkommen laufend übernimmt. Und im Fall eines Streits um die Auslegung eines Vertrags soll der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheiden.
Die beiden Positionen sind unvereinbar. Punkt. Dennoch behauptet Aussenminister Burkhalter, er könne das Unmögliche möglich machen. Sein Vorschlag: Im Fall eines Streits soll der Entscheid beim EuGH liegen, gleichzeitig bliebe es jedoch der Schweiz überlassen, diesen umzusetzen. Würde sie sich sträuben, könnte Brüssel Repressalien ergreifen. Niemand wird im Ernst behaupten, dass die Schweiz jemals für einen Alleingang ihre Beziehung zur Europäischen Union aufs Spiel setzten würde. Darin liegt die Lüge.
Diese geht auf den 6. Dezember 1992 zurück, als in der Abstimmung zum EWR 50,3 Prozent der Bevölkerung dem Nein der SVP folgten. Seither haben FDP und CVP allmählich den rechtspopulistischen Jargon übernommen: Sie geloben ihre Liebe zum Vaterland sowie die Unantastbarkeit der nationalen Souveränität. Nein zur EU! So gefallen sie den WählerInnen. Und sich selbst. Gleichzeitig nahmen sie den EWR durch die Hintertür: Rund 120 bilaterale Abkommen hat Bern seither unterzeichnet. Hinzu kommt der «autonome» Nachvollzug von EU-Recht, zu dem die Schweiz gezwungen ist, will sie sich nicht ins Abseits manövrieren. Bis heute wurden sechzig Prozent des Schweizer Rechts dem europäischen angepasst.
Mit dem neusten Bundesratsplan geht es nach demselben Drehbuch weiter. «Kolonialvertrag!», brüllt die SVP, die CVP spricht von Unterwerfung, während die FDP die harten Leitplanken lobt. Auf Druck der Wirtschaft werden am Ende bis auf die SVP dennoch alle einlenken. Schliesslich reiht sich der Plan nahtlos in die bisherige Europapolitik ein: Er hält den Schein der nationalen Souveränität aufrecht.
Dabei ist der Verlust an nationaler Souveränität ohnehin nicht das Problem. Das Problem ist, dass mit ihr gleichzeitig die Demokratie untergraben wird: Die Schweiz übernimmt EU-Recht, ohne dass hiesige BürgerInnen im EU-Parlament und das Land innerhalb des Ministerrats darüber mitentscheiden. Und nun soll die Schweiz auch dem EuGH folgen, ohne eigene RichterInnen zu stellen. Wer das in der Schweizer Verfassung verankerte Prinzip der Demokratie ernst nimmt, muss Burkhalters Plan ablehnen.
Es gibt jedoch eine weitere Alternative: den EU-Beitritt. Damit könnten die Schweizer BürgerInnen dort mitbestimmen, wo das europäische Recht entsteht. Die Schweiz wird im 21. Jahrhundert nicht umhin kommen, sich für eine der Alternativen zu entscheiden.
Aussenminister Burkhalter wird die Debatte nicht lancieren. Seine Seele ist die eines Beamten. Und SP und Grüne? Einst plädierten sie offen für den Beitritt. Inzwischen fürchten sich die einen vor der wirtschaftsliberalen EU, andere sind der SVP-Folklore verfallen; oder sie haben Angst, ihre WählerInnen zu verjagen. Also schweigt man. Mit Christian Levrat hat die SP einen Exgewerkschafter an der Spitze, dessen Schachbrett an der Landesgrenze endet. Nach den Grünen sucht man in der Diskussion ebenfalls vergeblich. Die Linke hat den Nationalisten das Feld überlassen.
Damit schadet sie sich selbst. Am Ende trägt die SP den zunehmend unpopulären bilateralen Weg stets mit. Weil sie im Zweifel für mehr Öffnung ist. Und sie im Gegenzug von den Bürgerlichen flankierende Massnahmen erzwingen kann. Die Strategie stösst jedoch an ihre Grenze: Mit fortschreitender Integration werden die flankierenden Massnahmen immer schwerer zu verteidigen sein. Die Gewerkschaften warnen bereits, der EuGH könnte die erkämpften Arbeitsrechte untergraben.
Entweder tritt die Linke den nationalen Rückzug an, oder sie stellt sich wieder offen hinter den EU-Beitritt. Damit erhielte sie für ihr Bekenntnis zur Öffnung zumindest wieder ein Argument in die Hand: die demokratische Mitbestimmung.