Mindestlohninitiative: Ein Lohn zum Leben
Der Gewerkschaftsbund lanciert seine Kampagne zur Mindestlohninitiative, über die Mitte Mai abgestimmt wird. Bundesrat Johann Schneider-Ammann warnt umgehend vor einem dramatischen Arbeitsplatzverlust. Zu Recht?
Am Anfang steht eine simple moralische Frage: Sollen in der Schweiz alle, die vierzig Stunden in der Woche arbeiten, mindestens 4000 Franken monatlich verdienen? Kurz, von ihrem Lohn leben können? Selbst WirtschaftsführerInnen wagen es kaum, die Frage zu verneinen. Ein Job als Schuhverkäuferin oder Putzmann, mit dem man oft weniger verdient, ist hart. Und wer unter 4000 Franken erhält, hat nach Bezahlung von Miete, Essen und Ausbildung der Kinder kaum einen Rappen übrig.
In dieser Situation befinden sich rund neun Prozent der Beschäftigten in der Schweiz. In der Mindestlohninitiative, über die die Stimmbevölkerung Mitte Mai abstimmen wird, geht es ganz konkret um deren Löhne.
Die Arbeitgeberseite sagt, es sei der Markt, der sie zu diesen Löhnen dränge. Höhere Löhne bedeuteten weniger Stellen. Der Direktor des Arbeitgeberverbands Roland Müller: «Wenn der Staat die Firmen zwingt, tiefe Einkommen auf einen Mindestlohn anzuheben, ist nicht auszuschliessen, dass gewisse Firmen Stellen streichen müssen.» Dies umso mehr, als die Schweiz mit einem Mindeststundenlohn von 22 Franken europaweit den Spitzenplatz einnehmen würde. Auch Bundesrat Johann Schneider-Ammann warnte vor dramatischen Jobverlusten, als er Anfang der Woche vor JournalistInnen die Position des Bundesrats darlegte. Am Ende, so das Totschlagargument, schadeten die Gewerkschaften ausgerechnet den ArbeiterInnen, die sie zu schützen suchten.
Grenzen des Gesamtarbeitsvertrags
Arbeitgeberverband und Bundesrat plädieren für mehr Vertrauen in Gesamtarbeitsverträge (GAVs), in denen die Sozialpartner für die wirtschaftlich unterschiedlich starken Branchen und Regionen angepasste Mindestlöhne festlegen können. Sind GAVs also ein Allheilmittel? Daran will der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB), der die Initiative lanciert hat, nicht glauben. In vielen Branchen, sagt SGB-Vizepräsidentin Vania Alleva, stosse man mit den GAVs an Grenzen. Insbesondere im Dienstleistungssektor, der am rasantesten wächst: 1955 waren erst 34 Prozent der Angestellten in diesem Sektor beschäftigt, inzwischen sind es gut 75 Prozent.
Zum einen, sagt Alleva, sei der Dienstleistungssektor gewerkschaftlich noch immer schwach organisiert. Zum anderen hätten viele Branchen entweder keinen Verband, mit dem man verhandeln könnte, oder die Firmeninhaber wollten – was auch Arbeitgeberverbanddirektor Müller nicht bestreitet – schlicht keinen GAV. Darunter befinden sich Ladenketten wie H&M, C&A, Zara, Bata oder Dosenbach. Der Präsident des Schweizerischen Schuhhändler-Verbands, Dieter Spiess, gab etwa gegenüber der «Rundschau» des Schweizer Fernsehens zu Protokoll: «Gewerkschaften braucht es nicht.» GAVs bezeichnete er als «Auslaufmodell».
In der Schweiz verdienen laut Zahlen des SGB rund 330 000 Arbeitnehmende weniger als 4000 Franken im Monat, über achtzig Prozent von ihnen sind dabei in der Dienstleistungsbranche tätig: im Detailhandel, bei Putzinstituten, in der Haushaltshilfe, in der Gastronomie oder im Sozial- und Gesundheitswesen. Am häufigsten betroffen sind Frauen, nämlich zwölf Prozent aller weiblichen Beschäftigten – gegenüber vier Prozent der Männer.
Wie es die anderen machen
Dennoch: Was ist von den Argumenten des Arbeitgeberverbands zu halten? Ist der geforderte Mindestlohn zu hoch? Und könnte er tatsächlich zum Verlust von Arbeitsplätzen führen? Europäische Länder wie Italien, Österreich, Dänemark oder Schweden, in denen über drei Viertel der Angestellten einem GAV unterstehen, kennen in der Regel keinen Mindestlohn. Jene Länder wie die Schweiz, in denen lediglich die Hälfte oder weniger der Beschäftigten einem GAV unterstellt ist, haben jedoch mit Ausnahme Zyperns alle einen. In Deutschland, wo ihn die Regierungskoalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel gerade einführt, soll er 8,50 Euro betragen; in Frankreich liegt er bei 9,50 Euro, in Luxemburg, dem europäischen Land mit dem höchsten Mindestlohn, bei 11,10 Euro.
Der von der Initiative geforderte Mindestlohn würde umgerechnet 17,90 Euro betragen. Würde die Schweiz damit also tatsächlich, wie der Arbeitgeberverband glaubt, zur Europameisterin?
Ja. Allerdings wäre die Schweiz nicht unangefochten. Zum einen liegt der derzeitige Kurs von etwas über 1.20 Franken gegenüber dem Euro auf einem Allzeithoch. Entsprechend hoch ist der umgerechnete Mindestlohn. Mit dem Kurs von 2007 läge er bei 13,40 Euro. Im Vergleich zu Luxemburg schrumpft die Differenz auf 2,30 Euro. Zu berücksichtigen ist zum anderen das hohe Schweizer Lohnniveau: Der geforderte Mindeststundenlohn von 22 Franken betrüge gemäss einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbunds 61 Prozent des Medianlohns; das ist die Lohnmitte – die Hälfte der Arbeitnehmenden verdient mehr, die andere weniger als diesen Wert. In Deutschland liegt der geplante Mindestlohn mit 51 Prozent des Medians etwas darunter, in Frankreich mit 62 Prozent gar knapp darüber.
Fünf Argumente
Stimmt das Argument von Arbeitgeberverband und Bundesrat, nach dem ein Mindestlohn gewisse Arbeitsstellen vernichtet? Was würde mit den 330 000 Arbeitsstellen, die vom Mindestlohn betroffen wären, bei Annahme der Initiative geschehen?
Erstens: In ganz Europa leiden die Firmen derzeit unter einer schwachen Konsumnachfrage, weil ein Grossteil der Bevölkerung die scharfe Krise spürt. Höhere Löhne würden zu mehr Nachfrage führen, was die Firmen dazu brächte, weitere Arbeitskräfte einzustellen.
Zweitens: Bundesrat Schneider-Ammanns Warnung, der Mindestlohn würde die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Firmen schwächen, ist obsolet. Der Dienstleistungssektor mit seinen Tieflöhnen steht kaum in der internationalen Konkurrenz: Wenn ein Coiffeursalon höhere Löhne zu bezahlen hat, muss er kaum fürchten, dass seine Kundschaft ins Ausland ausweicht. Sie wird sich ihre Haare weiterhin in der Stadt schneiden lassen, in der sie lebt. Die Firmen werden deshalb einen Teil der höheren Kosten auf die KundInnen überwälzen können. Das gilt insbesondere für unverzichtbare Dienstleistungen wie die Pflege.
Drittens: Im Dienstleistungssektor können auch die Firmen nicht auf das Ausland ausweichen, indem sie ihre Arbeit auslagern, weil die Arbeit hier erbracht werden muss. Falls sie die Kosten nicht den KundInnen weitergeben können, werden sie womöglich Abstriche bei der Marge hinnehmen. Dies umso mehr, als es im Dienstleistungssektor schwierig ist, die Arbeit weiter zu rationalisieren: In jedem Coiffeursalon braucht es Angestellte, die die Haare schneiden.
Viertens: Einige Jobs werden wohl tatsächlich verloren gehen. Dies wird allerdings in erster Linie dazu führen, dass Firmen weniger Arbeitskräfte aus dem Ausland holen. Wie eine Studie der Universität Basel belegt, wird der Tieflohnsektor vor allem mit billigen ausländischen Arbeitskräften am Laufen gehalten. Schliesslich ist damit zu rechnen, dass Arbeitskräfte, die mit dem Mindestlohn neu mehr verdienen, einen Zweitjob aufgeben. Dieser stünde anderen Arbeitskräften zur Verfügung.
Mindestlohn hat keine Jobs gekostet
Die genaueren Folgen des Mindestlohns vorherzusagen, ist sehr schwierig. Allerdings gibt es mittlerweile etliche Studien, die die Auswirkungen von Mindestlöhnen in anderen Ländern nachskizziert haben. Die erste Studie, die dem Argument der Arbeitsplatzvernichtung entgegentrat, war jene dreier US-Ökonomen, die 1992 Fastfoodketten in New Jersey und Pennsylvania untersuchten. Ihr Fazit: Nachdem New Jersey einen Mindestlohn eingeführt hatte, stellten die dortigen Restaurants sogar mehr Arbeitskräfte ein als jene in Pennsylvania.
Seither wurden unzählige weitere Studien publiziert, deren Ergebnisse von einem leichten Beschäftigungsrückgang bis zu einem leichten Zuwachs reichen. Dramatische Auswirkungen wurden keine gefunden. Das jüngste umfassende Projekt der University of California in Berkeley von 2010, das versucht, eine Synthese aus den bisherigen Studien zu ziehen, kommt zum Schluss: Die Mindestlöhne, die in den letzten sechzehn Jahren in den USA eingeführt wurden, haben keine Jobs gekostet.
Am Ende landet man wieder bei der einfachen moralischen Frage: Sollen in der Schweiz alle, die vierzig Stunden die Woche arbeiten, davon leben können?