Mindestlohninitiative: «Das ist nichts als pure Angstmacherei»
Muss die kleine Beiz im Tessin schliessen, wenn die Mindestlohninitiative angenommen wird? Lohnt sich dann eine Lehre noch? Und was ist mit der Landwirtschaft? Spitzengewerkschafterin Vania Alleva kontert Argumente der Bürgerlichen.
WOZ: Vania Alleva, als Tochter italienischer Einwanderer wissen Sie, wie es ist, in bescheidenen Verhältnissen zu leben.
Vania Alleva: Mein Vater war Lastwagenchauffeur, meine Mutter Schneiderin, sie hat aber auch in der Lebensmittelindustrie gearbeitet und geputzt. Sie waren also beide in Berufen tätig, die bis heute zu den Tieflohnbranchen gehören. Ich habe in meiner Kindheit gelernt, dass Arbeit einen Wert hat, der entsprechend entlöhnt werden soll. Und dass Arbeiterinnen und Arbeiter eine Würde haben, die es zu respektieren gilt. Mit einem Monatslohn von 4000 Franken kann man halbwegs in Würde leben.
Das ist der Betrag, den der Schweizerische Gewerkschaftsbund SGB mit seiner Mindestlohninitiative fordert, die am 18. Mai zur Abstimmung kommt. Was bedeutet es, mit wenig Geld leben zu müssen?
Dass man zwei oder gar drei Jobs zugleich ausüben muss und kaum Zeit für die Familie hat. Dass man sich ständig sorgen muss, nicht über die Runden zu kommen. Können wir uns leisten, mit den Kindern in den Zoo zu gehen? Können wir deren Studium finanzieren?
In der Schweiz arbeiten 330 000 Menschen in einem Job, in dem sie für ein Hundertprozentpensum weniger als 4000 Franken verdienen. Wo arbeiten diese Leute?
Tiefe Löhne gibt es in allen Branchen, allerdings stechen einige besonders hervor. Stark betroffen ist der Detailhandel, eine der grössten Branchen in der Schweiz, in der über 300 000 Leute arbeiten. Viele Firmeninhaber des Kleider- und Schuhhandels zählen zu den reichsten Personen in Europa, so die Herren Ortega von Zara, Brenninkmeijer von C & A oder Deichmann von Dosenbach/Ochsner. Es lässt sich also viel Geld verdienen. Betroffen sind zudem vor allem die typischen Frauenbranchen, etwa der ganze Kosmetikbereich oder die Coiffeursalons. Frauen würden deshalb ganz speziell vom Mindestlohn profitieren.
Und warum sind die Löhne dort so tief?
Es sind vorab Branchen, in denen es keine sozialpartnerschaftliche Tradition und nur wenige Gesamtarbeitsverträge gibt. In der Kleiderbranche gibt es Firmen, die sich weigern, Gesamtarbeitsverträge abzuschliessen.
Können Sie Namen nennen?
Zum Beispiel Dieter Spiess, der Präsident des Schuhhändlerverbands. Er sagt, Gesamtarbeitsverträge seien ein DDR-Instrument. Mit anderen Branchen wie etwa der Kosmetik haben wir ein anderes Problem: Die Arbeitgeber sind in keinem Verband organisiert, entsprechend fehlt uns ein Verhandlungspartner. Wir haben in der Schweiz das System einer halben Sozialpartnerschaft: Nur die Hälfte der Arbeitnehmenden ist durch einen Gesamtarbeitsvertrag geschützt.
Der Dienstleistungssektor, der gewerkschaftlich schwach organisiert ist, hat in den letzten Jahrzehnten stark an Gewicht gewonnen.
Ja. Bei der Unia ist es uns jedoch in den letzten Jahren gelungen, diese gewerkschaftliche Wüste zu begrünen. Wir wachsen dank des Dienstleistungssektors. Aber klar, es braucht Zeit. Die Mindestlohninitiative sieht im Übrigen in erster Linie vor, dass Bund und Kantone Gesamtarbeitsverträge fördern sollen. Wo diese jedoch nicht greifen, wird der Mindestlohn eine Lohnuntergrenze garantieren.
Der Mindestlohn war innerhalb der Gewerkschaften stets umstritten, weil der Staat damit in ihr Gärtchen tritt. Wann fand der SGB zur Überzeugung, dass es einen Mindestlohn braucht?
Ende der Neunziger haben wir in einer Kampagne gefordert, dass es keine Löhne unter 3000 Franken geben dürfe. Wir hatten vor allem in Branchen Erfolg, in denen wir Gesamtarbeitsverträge haben. Hier hatten wir mit den Firmen bereits eine Verhandlungsbasis. So hat das Gastgewerbe einen grossen Sprung nach vorne gemacht und später auch den 13. Monatslohn eingeführt. Im Detailhandel haben wir bei Coop und Migros erreicht, dass die tiefsten Löhne innerhalb von zehn Jahren um fast tausend Franken angehoben wurden. In Branchen beziehungsweise Betrieben ohne Gesamtarbeitsverträge haben wir jedoch kaum etwas erreicht. So haben wir am Unia-Kongress 2008 die Idee der Mindestlohninitiative lanciert und konnten schliesslich auch den SGB überzeugen.
Es wird gewarnt, die Schweiz läge mit einem Mindestlohn von umgerechnet 17,90 Euro deutlich höher als der europäische Spitzenreiter Luxemburg, wo er 11,10 Euro beträgt …
Die Schweiz hat im internationalen Vergleich aber auch eines der höchsten Lohnniveaus! Wenn Sie die Mindestlöhne nehmen, müssen Sie sie also zuerst ins Verhältnis zum mittleren Lohn des jeweiligen Landes setzen.
Der vom SGB geforderte Mindestlohn betrüge 61 Prozent dieses sogenannten Medianlohns. Damit läge die Schweiz nach der Türkei und Frankreich europaweit an dritter Stelle.
Entscheidend ist eine weitere Vergleichsgrösse: Der Mindestlohn von 8,50 Euro, den Deutschland beschlossen hat, bringt sechzehn Prozent der Beschäftigten mehr Lohn. In der Schweiz wäre knapp jede und jeder Zehnte betroffen. Der Mindestlohn in Deutschland ist also viel ambitionierter. Der Mindestlohn, den wir fordern, ist absolut verkraftbar.
Der Gewerbe- und der Arbeitgeberverband behaupten, dass etliche Betriebe ihre Türen schliessen müssten, weil sie nicht allen 4000 Franken bezahlen könnten.
Das ist nichts als Angstmacherei. Wir haben berechnet, wie viel der Mindestlohn die Arbeitgeber insgesamt kosten würde: 0,5 Prozent der Lohnsumme, die die Betriebe heute zahlen – zudem haben sie dafür laut Initiativtext drei Jahre Zeit. Sehr viele Betriebe, auch KMUs, bezahlen bereits heute ihren Mitarbeitenden mindestens 4000 Franken. Diese leiden darunter, dass sie von Betrieben konkurrenziert werden, die Lohndumping betreiben. Mit der Initiative schaffen wir für alle gleich lange Spiesse.
Was ist mit der kleinen Beiz im Tessin?
Entgegen einer weitverbreiteten Annahme sind es nicht unbedingt die kleinen Betriebe, die tiefe Löhne zahlen. Aktuell beschäftigt uns zum Beispiel der Fall Eugster/Frismag, ein Industriebetrieb mit über tausend Beschäftigten, der in der Ostschweiz unter dem Swissness-Label Kaffeemaschinen herstellt und Monatslöhne von 2600 Franken bezahlt.
Aber um auf Ihre Frage zu antworten: Unsere Ökonomen haben berechnet, welche Auswirkungen der Mindestlohn auf jene Restaurationsbetriebe haben könnte, bei denen in Bezug auf die Löhne ein besonders grosser Nachholbedarf besteht. Resultat: Der Kaffeepreis müsste um maximal zehn Rappen erhöht werden. Dasselbe gilt bei Coiffeursalons: Ein Haarschnitt von achtzig Franken würde um maximal 1.50 Franken aufschlagen. Das ist minim.
Warum ist dann der Verband der Coiffeure so dezidiert gegen die Initiative?
Es sind vor allem ideologische Gründe. Ich habe für die Opposition der Coiffeurbetriebe wenig Verständnis: Der bestehende Gesamtarbeitsvertrag schreibt vor, dass bis 2015 die Löhne mindestens 3800 Franken betragen müssen. Der Schritt auf 4000 Franken bis 2018, wie es die Initiative verlangt, wäre absolut verkraftbar.
Beizen etwa werden die höheren Kosten auf ihre Kunden überwälzen können. Landwirte müssen mit ihrem Gemüse aber mit der ausländischen Konkurrenz mithalten.
Kein Wirtschaftssektor erhält so viele Subventionen wie die Landwirtschaft. Wir sollten von den Bauern erwarten dürfen, dass sie nicht nur bei der Tierhaltung oder dem Pestizideinsatz, sondern auch bei ihren Angestellten Mindestregelungen einhalten. An den Mehrkosten, die der Mindestlohn bringt, sollten sich vor allem die Zwischenhändler und Grossverteiler beteiligen, indem sie ihre Margen reduzieren. Heute verdienen sie mehr am Verkauf landwirtschaftlicher Güter als die Bauern. Der Branchenverband Bio Suisse ist übrigens nicht gegen die Mindestlohninitiative, er hat Stimmfreigabe beschlossen.
Das ist keine Befürwortung der Initiative.
Aber es ist ein klares Zeichen, dass es Biobauern gibt, die gegenüber einem Mindestlohn offen sind.
Die Seite der Unternehmer behauptet, der Mindestlohn könnte Schulabgänger dazu verleiten, einen Job für 4000 Franken anzunehmen, statt eine Berufslehre zu machen.
Im Bau liegt der Mindestlohn für Ungelernte bereits heute bei 4600 Franken. Deswegen gibt es nicht weniger Junge, die eine Lehre absolvieren. Jeder weiss, dass er eine Lehre braucht, um im Berufsleben weiterzukommen. Zudem wird das Parlament in den Ausführungsbestimmungen das Alter festlegen, ab dem der Mindestlohn gilt. In Deutschland soll das ab achtzehn Jahren sein, das ist vernünftig. Von den 330 000 Arbeitnehmenden, die unter 4000 Franken verdienen, hat im Übrigen ein Drittel eine Lehre gemacht. Das ist skandalös! Es heisst, dass sich eine Lehre oft nicht auszahlt.
Sie können schon jetzt zufrieden sein: Unter dem Druck der Initiative haben Aldi und Lidl ihre Tieflöhne auf 4000 Franken angehoben.
Die Initiative ist für uns tatsächlich bereits ein Erfolg. Zum einen haben wir mit den 4000 Franken eine Marke gesetzt: Heute weiss jede und jeder in der Schweiz, wie hoch ein halbwegs anständiger Lohn mindestens sein sollte. Zum anderen haben verschiedene Branchen oder einzelne Betriebe ihre Mindestlöhne angehoben, neben Lidl und Aldi unter anderen auch H & M und Bata. Letzten Sommer ist es uns in der Maschinenindustrie nach 75 Jahren gelungen, Mindestlöhne im Gesamtarbeitsvertrag zu verankern. Und der Bäcker- oder auch der Floristenverband empfehlen ihren Mitgliedern neuerdings einen Lohn von 4000 Franken als Untergrenze. Wir sind jedoch noch nicht am Ziel. Darum braucht es am 18. Mai ein Ja.
Das Ja zur SVP-Einwanderungsinitiative hat der Mindestlohninitiative einen Schlag versetzt. Viele glauben, dass nun weniger Menschen einwandern und der Lohndruck sinkt.
Das ist ein Trugschluss. Kurz nach der Abstimmung forderten viele Bürgerliche, die flankierenden Massnahmen, die die Löhne schützen, seien nun aufzuheben. Die Forderung ist zwar etwas abgeklungen, aber sie ist besorgniserregend. Die Löhne werden durch die Einführung von Kontingenten keineswegs geschützt: Zur Zeit des Saisonnierstatuts, mit dem auch meine Eltern in die Schweiz kamen, gab es sehr viel Lohndumping. Es braucht nach dem 9. Februar nicht weniger, sondern mehr Lohnschutz.
Die Gewerkschafterin
Vania Alleva (44) ist Vizepräsidentin des Schweizer Gewerkschaftsbunds (SGB) und seit 2012 Kopräsidentin der Gewerkschaft Unia. Sie wuchs in Zürich auf und studierte später in Rom Kunstgeschichte.
Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz arbeitete Alleva als Journalistin und Mittelschullehrerin, bevor sie 2001 bei der Gewerkschaft für Bau und Industrie (GBI) einstieg, die später mit anderen Gewerkschaften zur Unia fusionierte. Alleva ist verheiratet und lebt in Bern.
Die Mindestlohninitiative
Die Initiative «Für den Schutz fairer Löhne» des Gewerkschaftsbunds (SGB), über die am 18. Mai abgestimmt wird, will Bund und Kantone verpflichten, «die Festlegung von orts-, berufs- und branchenüblichen Mindestlöhnen in Gesamtarbeitsverträgen» zu fördern.
Zudem soll ein schweizweiter gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden. Dieser würde «regelmässig an die Lohn- und Preisentwicklung angepasst, mindestens aber im Ausmass des Rentenindexes der Alters- und Hinterlassenenversicherung».