Mindestlohninitiative: Gesucht: Eine linke Gegenerzählung
Nach dem niederschmetternden Resultat der Mindestlohninitiative müssen sich die Gewerkschaften fragen, wieso ihr Wahlkampf nicht verfangen hat und ob das Mittel der Volksinitiative das richtige war. Doch sie geben sich kämpferisch.
Nicht einmal 24 Prozent der Schweizer Stimmenden sagten vor zwei Wochen Ja zur Mindestlohninitiative der Gewerkschaften. Die 1:12-Initiative hatte im letzten November immerhin einen Ja-Anteil von 34,7 Prozent erreicht. Was ist schiefgelaufen im Wahlkampf, dass nicht einmal die linke Basis geschlossen für den flächendeckenden Mindestlohn von 4000 Franken gestimmt hat? War die Kampagne tatsächlich zu «technokratisch», wie die WOZ in der letzten Ausgabe kritisiert hat (siehe WOZ Nr. 21/2014 )?
«Nein», antwortet Beat Ringger, Zentralsekretär des Verbands des Personals Öffentlicher Dienste (VPOD), der die Initiative mit lanciert hat. «Der Gewerkschaftsbund hat beispielsweise viel in eine Shaming-Kampagne, also die Skandalisierung von Tiefstlöhnen, investiert, besonders gegen die Barone der Textilladenketten.» Auch Vania Alleva, Kopräsidentin der Gewerkschaft Unia, will den Vorwurf nicht gelten lassen. Sie verweist auf die vielen Kampagnenaktivitäten in den Regionen, die von aktiven Mitgliedern getragen wurden, sowie ebenfalls auf die Shaming-Kampagne, die allerdings mit Schwierigkeiten verbunden war: «Wir hatten erhebliche Probleme, Betroffene zu finden, die bereit waren, sich in der Öffentlichkeit für den Mindestlohn zu exponieren und Tieflöhne zu kritisieren, weil sie Repressalien fürchteten.» So sei es den Gewerkschaften nicht gelungen, die betroffenen Beschäftigten stärker ins Zentrum der Kampagne zu stellen und das Tieflohnproblem mit Gesichtern anschaulich zu machen. «Die Forderung blieb eher abstrakt, die Kampagne konnte wenig emotionalisiert werden.»
Der Gegner hingegen habe Dutzende von Gewerbetreibenden präsentiert, die vom drohenden Zwang zum Arbeitsplatzabbau schwafelten und ihrer Kampagne so Gesichter geben konnten. Natalie Imboden, die bei der Unia für die Detailhandelsbranche verantwortlich ist, sieht hier eine Schwäche der Mindestlohnkampagne: «Die Gewerkschaften konnten nicht genügend vermitteln, dass die vom Gegner gepriesene Sozialpartnerschaft nicht überall Realität ist. Im Detailhandel hat das mit fehlenden oder gar feindseligen Arbeitgeberorganisationen zu tun. So spricht sich beispielsweise der Schuhhändlerverband gegen Gesamtarbeitsverträge aus.» Da im tertiären Sektor Branchen mit vielen Tieflöhnen gewerkschaftlich nicht gut organisiert seien, bleibe die gewerkschaftliche Aufbauarbeit zentral, sagt Natalie Imboden.
4000 Franken als Richtwert
Fragt man die führenden GewerkschaftsvertreterInnen nach den Ursachen des schlechten Abstimmungsergebnisses der Mindestlohninitiative, ist die Antwort immer auch ein Datum: der 9. Februar 2014. Die Annahme der SVP-Initiative habe zu einem «Klima der Verunsicherung» geführt, wie Paul Rechsteiner sagt, der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB). «Hinzu kam die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen. Das hat unserer Initiative schwer geschadet.»
Selbstkritisch geben die Gewerkschaftsspitzen zu, dass es rückblickend wohl sinnvoller gewesen wäre, gewisse Ausnahmen zu formulieren. «So sind zum Beispiel für junge Arbeitnehmende tiefere Löhne plausibel», sagt Vania Alleva.
Die Kopräsidentin der grössten Schweizer Gewerkschaft wendet aber umgehend ein, dass sich der Erfolg der Initiative nicht nur am blossen Abstimmungsresultat messen lasse: «Wir haben eine breite Diskussion über Tieflöhne ausgelöst und darüber, wer davon betroffen ist. Es ist uns gelungen, 4000 Franken als Richtwert für einen anständigen Lohn zu setzen. Deshalb war es auch richtig, die Kampagne mit diesem Betrag zu führen.» Auch Paul Rechsteiner hält fest, dass die Initiative als Bestandteil einer übergeordneten Lohnstrategie zu betrachten sei. «Eine Kampagne, die an die erfolgreiche ‹Kein Lohn unter 3000 Franken›-Kampagne Ende der neunziger Jahre anschliesst», so Rechsteiner. «Sozialer Fortschritt musste in der Schweiz fast immer in mehreren Etappen erkämpft werden, etwa bei der Mutterschaftsversicherung oder dem Frauenstimmrecht», so Rechsteiner.
Allerdings stünden die Gewerkschaften vor dem Paradox grosser Erfolge im Kampf gegen tiefe Löhne – allen voran im Dienstleistungssektor – und einem eklatanten Abstimmungsmisserfolg. Nach der Abstimmungsniederlage hat die WOZ letzte Woche die Frage aufgeworfen, ob Volksinitiativen für linke Anliegen wirklich das richtige Mittel seien, da «Initiativen mit klassischen linken Themen – Arbeit, Kapital und Umverteilung – in der Schweiz nicht mehrheitsfähig sind».
Während Alleva, Imboden und SGB-Präsident Rechsteiner überzeugt sind, dass die Initiative der richtige Weg war, ist sich VPOD-Zentralsekretär Beat Ringger nicht sicher: «Ist es klug, die Stimmberechtigten bei einer Sache entscheiden zu lassen, die die Gewerkschaften mit ihrer eigenen sozialen Kraft durchsetzen sollten?», fragt er sich. Wenn es dann – wie am 18. Mai – schief herauskomme, könne das der sozialen Kraft der Gewerkschaften schaden. Entscheidend sei nicht die Frage, ob die Linke Initiativen lancieren solle, sondern wann und wie. «Protestaktionen, Kundgebungen, Besetzungen, Streiks verändern die Welt, Volksabstimmungen nur selten. Doch jede Politikform hat ihre Zeiten, ihre Kraft und ihre Grenzen. Direkte Aktionen lassen sich nicht in jedem Moment aus dem Boden stampfen.» Initiativen seien ein wichtiges Mittel, damit auch linke Fragestellungen zur Abstimmung kommen. Aber sie seien heikel, wenn sie an die Stelle von Bewegungen und Protesten gesetzt werden, so Ringger.
GAVs als Kerngeschäft
Einigkeit herrscht dagegen, dass Gesamtarbeitsverträge das Kerngeschäft der Gewerkschaften bleiben, ebenso wie eine stärkere Verankerung in den Betrieben. «Die Weiterentwicklung der Gesamtarbeitsverträge bleibt die wichtigste Herausforderung für uns. Sie ist zugleich der Test, was das Bekenntnis der Gegner der Volksinitiative zur Sozialpartnerschaft effektiv wert ist», sagt Rechsteiner. Als lohnpolitische Priorität der kommenden Jahre bezeichnet er zudem den Kampf gegen die Lohndiskriminierung der Frauen.
Die Lohnfrage wird auch künftig ein entscheidendes Kampffeld für die Gewerkschaften und mit ihnen für die gesamte Linke bleiben. Dafür muss die Linke endlich eine glaubwürdige und attraktive Gegenerzählung zu den bürgerlichen Argumentationen liefern, konkret zur geschürten Angst vor Arbeitsplatzverlusten und zum Slogan «Lohndiktat des Staates».
«Glaubwürdige Politik»
Für Beat Ringger steht und fällt die Kraft einer solchen Gegenerzählung mit «einer glaubwürdigen Politik». «Wenn linke Regierungen rechte Politik machen – wenn sich also die ehemalige SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey fürs Bankgeheimnis einsetzt oder die aktuelle SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga eine scharfe Umsetzung der Ausschaffungsinitiative mitträgt, dann wird es mit den Gegenerzählungen schwierig.» Sommaruga hätte nach dem 9. Februar zurücktreten und sich an die Spitze einer Bewegung für eine offene und solidarische Bewegung setzen sollen. «Das würde uns heute Rückenwind geben», ist Ringger überzeugt.
«An vielen Orten ist der Kompass für eine wirtschaftlich und sozial erfolgreiche Schweiz verloren gegangen», sagt Rechsteiner. «Deshalb ist es so wichtig, dass wir frühzeitig Klarheit über die Haltung der Gewerkschaften schaffen.» Diese Haltung bestehe für ihn in geregelten Beziehungen der Schweiz zur EU, also den bilateralen Verträgen. Und im Kampf gegen die Diskriminierung: «Deshalb kommt ein neues Saisonnierstatut mit Arbeitskräften ohne Rechte für uns nicht infrage.» Als nächste grosse Herausforderung sieht Rechsteiner die kommende Abstimmung über die Ecopop-Initiative. Er ist überzeugt, dass die Gewerkschaftskampagne dazu viel offensiver wird als im Vorfeld der SVP-Initiative. «Wir hatten am Freitag vergangener Woche unsere Delegiertenversammlung. Die Stimmung nach der Abstimmungsniederlage war keineswegs depressiv. Unsere Leute haben den Ernst der Lage erkannt und zeigen sich kämpferisch.»