Marie NDiaye: Prekäre Elternschaften

Nr. 20 –

Marie NDiaye gehört zu den renommiertesten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Frankreichs. Das Werk der Autorin, die «Sarkozy-Frankreich» den Rücken gekehrt hat und in Berlin lebt, kreist um die Familie und ihre Abgründe.

Auffällig ist ihre Stimme. Zurückhaltend, leise und dabei präzise akzentuierend. Sie sagt Sätze wie: «Ich bin Feministin. Und alle Männer und Frauen sollten das sein.» Oder: «Ich finde Sarkozys Frankreich monströs.» Sätze, die sanft über die glatte Oberfläche der Rede gleiten, aber wie kleine Steine im Wasser Erinnerungsringe hinterlassen.

Ihrer Hautfarbe misst die 46-Jährige wenig Bedeutung bei, sie ist keine Reisende zwischen den Kulturen. Als Marie NDiaye als erster dunkelhäutiger Frau 2009 für ihren Roman «Drei starke Frauen» der Prix Goncourt verliehen wurde, spielte sie das biografische Gewicht dieses Attributs wiederholt herunter. «Ich lebte als Mischlingskind zu einer Zeit in Frankreich, als das noch recht selten war», gab sie in einem Interview zu Protokoll. «Gleichzeitig war ich durch und durch Französin.» Sie habe zwar «eine gewisse Differenz» empfunden, aber nie darunter gelitten.

Und dennoch: Hell und dunkel, schwarz und weiss, das spielt schon eine gewichtige Rolle in den Romanen und Theaterstücken dieser Hundertpro-Französin, die in der Nähe von Orléans im sozialen Wohnungsbau aufgewachsen ist. Ihr Vater, ein senegalesischer Student, verliess die Familie früh; die aus bäuerlichem Milieu stammende alleinerziehende Mutter arbeitete als Lehrerin. Das Kind begann früh zu lesen, vor allem die Klassiker, an denen es seinen Stil schulte. Gerade siebzehnjährig bestieg ein offenbar sehr selbstbewusstes Mädchen einen Zug nach Paris, um dem renommierten Verleger Jérôme Lindon ihren ersten Roman vorbeizubringen. Er wurde gedruckt, in den berühmten Éditions de Minuit. Seither ist Marie NDiaye Schriftstellerin. Etwas anderes war für sie auch nie vorstellbar.

Die Erfahrungen in der Provinz haben die Autorin, die auch als Erwachsene mit ihrer Familie immer wieder in ländlichen Gegenden Frankreichs gelebt hat, stark geprägt. Unter der sauber aufgeräumten Oberfläche rumort die Gewalt, das Abseitige, Unsagbare. Erkennbar wird es erst, indem die Figuren exterritorialisiert werden: in die Natur, in exotische Gefilde oder ins Märchenhafte, ästhetisch gesprochen «das Wunderbare». «Denn die Tatsachen, die die Welt ausmachen», heisst es in Ingeborg Bachmanns berühmtem «Franza»-Fragment, «sie brauchen das Nicht-Tatsächliche, um von ihm aus erkannt zu werden.» Das könnte auch für Marie NDiayes Poetikprogramm stehen.

In ihrem Roman «Rosie Carpe» (2005), der mit dem Prix Fémina ausgezeichnet wurde und erstmals auch deutschsprachige LeserInnen auf die bislang nur im Nachbarland bekannte Autorin aufmerksam machte, ist es das überseeische Departement Guadeloupe, eine der «Inseln über den Winden», in dem sich ein bereits im französischen Stammland angelegtes Demütigungsdrama zu verflüssigen beginnt. Es geht um eine junge, armselig lebende, entwürdigte Frau, die zusammen mit ihrem vernachlässigten Kind, Titi, auf die Insel reist, um ihren Bruder wiederzufinden.

Beide wirken verstört, Rosie erkennt in Titi den Makel ihrer selbst. In spannungsvollem Wechsel von Innen- und Aussenperspektive fräst sich die Autorin in die psychologischen Tiefen ihrer Hauptfigur, ihre Selbstentfremdung und Not, in einer sprachlichen Drift zwischen schmerzhaft-kristallinem und magischem Realismus. Mit Claudia Kalscheuer hat Marie NDiaye frühzeitig eine deutsche Übersetzerin gefunden, die nicht nur das Sphärische und Atmosphärische einzufangen versteht, sondern ihr Werk auch vor Manierismen bewahrt.

Unzerstörbare Würde

In der Provinz spielt auch der in Frankreich bereits 1994 erschienene Roman «Ein Tag zu lang» (2012), in dem nach einem auf dem Land verbrachten Urlaub plötzlich die Familie eines Mathematiklehrers verschwindet. Wie in einem Roman von Franz Kafka irrt dieser durch das Dorf auf der Suche nach Hilfe und scheitert an dem eigenartig-freundlichen Widerstand seiner BewohnerInnen. Nach den strahlenden Ferientagen hüllt sich die Szenerie plötzlich in undurchdringlichen Nebel und Regen, bis sich am Ende selbst das Hirn des immer resignierter werdenden Mannes mit Wasser vollgesogen hat und es ihm «gegen die Wände seines Schädels» tropft, «ja, sogar durch das ganze Innere seines Körpers» trieft, «ohne sich ergiessen zu können».

Auch in «Mein Herz in der Enge» (2006) liegt die Hafenstadt Bordeaux unter dichtem Nebel, während es in «Selbstporträt in Grün» (2012) ein Hochwasser der Garonne ist, das die Unterströmungen des Bewusstseins in Bewegung setzt. Die Magie der Natur und insbesondere die Tiere sind bei Marie NDiaye gleichberechtigte Spielfiguren, sie greifen in all ihrer Verwandlungsfähigkeit in die Handlung ein und treiben sie voran.

Thematisch kreist Marie NDiayes Werk fast ausnahmslos um die Familie: Am «Mikrokosmos Familie», erklärte die Autorin 2008 beim Internationalen Literaturfestival in Berlin, interessierten sie vor allem «die Leidenschaften und die Grausamkeit». Immer wieder geht es um ausgesetzte, vernachlässigte oder von Gewalt bedrohte Kinder; um Mütter, die eigene Gewalterfahrungen weitergeben; um Männer und Frauen, die sich in Schuldzusammenhänge verstrickt haben. Der Erzählungsband mit dem harmlos scheinenden Titel «Alle meine Freunde» (2006) handelt etwa von Trennungen und verkauften Kindern, von sexualisierter Gewalt und Suizidgefährdung.

Unter der dünnen zivilisatorischen Legierung der kommunikationsunfähigen Familien, denen das Wertezentrum verloren gegangen ist, lauern Grausamkeit und Angst, getaucht in eine Atmosphäre der Unheimlichkeit. Elternschaft ist in Marie NDiayes Romanen und Stücken keine Vorlage für das Glück, sondern nur als tragische Situation des Verhängnisses denkbar.

Aber obwohl Scham und unerfüllte Erlösungshoffnung, Schuld und Sühne die psychologischen Kerne ihrer Figuren bilden und sich im neuen Roman NDiayes einmal mehr entfalten (vgl. «Am Anfang war der Verrat» im Anschluss an diesen Text), sind ihre Texte keineswegs mit einer negativen Anthropologie grundiert, im Gegenteil. Zumindest die weiblichen Figuren – von Rosie Carpe bis zu Ladivine, der Protagonistin des jüngsten Romans – strahlen eine unzerstörbare Würde aus. Am deutlichsten wird das im romanhaften Porträt-Triptychon «Drei starke Frauen», einer virtuosen Introspektion, die bei aller Härte und Gewalt das unzerstörbar Gute im Menschen reklamiert. Aus der Perspektive literarisch-zynischer Frostigkeit kann man das als naiv abtun oder als unverbesserliches Gutmenschentum. Dann aber hätte man nicht das Aufstörende begriffen, das den Romanen den Drive gibt: Das Gute ist ohne das Abgründige, die menschliche Fehlleitung hier nicht zu haben.

Dass Marie NDiaye ausserdem eine furchtlose Bürgerin ist, hat sie spätestens mit ihren Äusserungen über das Sarkozy-Frankreich mit seiner «vulgären Polizeimentalität» und unmenschlichen Migrationspolitik bewiesen, die sie über Nacht ins politische Feuilleton gespült und 2009 den amtierenden Kulturminister Frédéric Mitterrand in eine unangenehme Lage gebracht haben. Vorangegangen war die – möglicherweise absichtsvolle – Ungeschicklichkeit des konservativen Abgeordneten Éric Raoult, der nicht nur den Minister, sondern auch die gesamte französische Presse mit der Frage konfrontierte, ob eine Trägerin des Prix Goncourt derart despektierlich über ihr Land und die französische Regierung sprechen dürfe.

Berlin als Transitort

Für Marie NDiaye indessen, die in Sarkozy-Frankreich Ähnliches erkannt haben mag wie in den von ihr beschriebenen deformierten Familien, war das jedenfalls der Anlass, zum zweiten Mal nach Berlin auszuwandern. Ausgerechnet Berlin, vor dem sie in den neunziger Jahren, aufgeschreckt von der aufflammenden Ausländerfeindlichkeit, ernüchtert geflohen war.

Heute schätzt sie die soziale Durchmischung der Stadt, die in Paris nicht mehr existiert. NDiaye arbeitet in Le Corbusiers «Wohnmaschine» im Berliner Westend, wo sie täglich ihr zweistündiges Schreibpensum absolviert, während sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Jean-Yves Cendrey, und den drei Kindern in einer beschaulichen Charlottenburger Seitenstrasse wohnt: aus Sicht der hippen Berliner Mitte schlichte Provinz. Berlin, das hatte die Autorin schon vor Jahren angekündigt, würde irgendwann auch in einem ihrer Romane auftauchen, und das hat sie mit «Ladivine» eingelöst.

Berlin wird wohl keine Endstation werden, sondern wie schon Rom oder Barcelona ein Transitort der Inspiration, angefeuert durch ausgedehnte Spaziergänge im Kiez und im nahe gelegenen Grunewald. Im selbstbezüglichen Berliner Literaturbetrieb dagegen taucht Marie NDiaye nur ausnahmsweise auf, und wenn, macht sie deutlich, dass sie nicht als «schwarze Exotin» wahrgenommen werden will.

Vielleicht wird doch noch einmal Afrika, das nur am Rand der Wegstrecke lag und nur zweimal von ihr als Touristin bereist wurde, eine Station in Marie NDiayes Leben. Nachdem der Kontinent in «Drei starke Frauen» als existenziell-realistische Urszene aufgerufen wurde, taucht er im aktuellen Roman wieder auf, als europäischer Sehnsuchtsort, schemen- und rätselhaft, ohne Orientierungshilfen. Das nach Afrika verschobene und imaginierte «Nicht-Tatsächliche» legt, wie einst Ingeborg Bachmann in ihrer «Wüste», nur Ariadnefäden. Und das ist die kleine Schwäche dieser politisch unerschrockenen, ästhetisch selbstgewissen und brillant schreibenden Autorin.

Marie NDiaye liest am Donnerstag, 22. Mai 2014, 
um 19.30 Uhr im Literaturhaus Zürich.

Marie NDiaye: Ladivine. Suhrkamp Verlag. Berlin 2014. 444 Seiten. Fr. 32.90

«Ladivine» : Am Anfang war der Verrat

Die Hautfarbe spielte bislang keine herausragende Rolle im Werk Marie NDiayes, doch in ihrem neuen Roman «Ladivine» wird sie zum Motor der Ereignisse. Denn warum sonst hätte sich die hellhäutige Malinka in eine urfranzösische Clarisse Rivière verwandeln sollen, wenn ihr die dunkelhäutige Mutter Ladivine Sylla nicht so peinlich gewesen wäre? Jeden Monat taucht Clarisse Rivière als Malinka verstohlen bei ihrer geliebten, aber verleugneten Mutter auf, ihr Doppelleben sowohl vor ihr als auch vor ihrem Mann Richard Rivière verbergend. Doch das Gewicht der «ungenutzten, unverhältnismässigen, stummen Liebe» drückt auf und nach beiden Seiten: Es macht das Leben der Mutter zu einem «bitteren Brot» und Clarisse Rivière zur Gefangenen ihrer Kälte, ihres «fröhlichen Verzichts».

«Ladivine» ist die Geschichte eines Verrats, der über drei Generationen hinweg Scham- und Schuldgefühle erzeugt. Sie nimmt ihren Ausgang in Bordeaux, führt über eine französische Kleinstadt nach Berlin zu Malinkas Tochter, die nach ihrer Grossmutter ebenfalls Ladivine heisst, und schliesslich nach Afrika. Dort wird der jüngeren Ladivine klar, dass auch ihre Ehe von der Lüge und dem Unheil, die über ihrer Herkunftsfamilie liegen, infiziert ist. Als plötzlich ein grosser Hund in Erscheinung tritt, der Ladivine verfolgt und offenbar beschützt, erkennt sie, dass sie in diesem Land etwas Besonderes ist, eine Auserwählte. Gerade das trennt sie von ihrer Familie. Ihr Bedürfnis, sich zu entziehen in ein «Randuniversum», wo sie endlich Glück erfahren darf «ohne Lebensschwere», wird immer stärker, zumal sie ihre Wahrnehmungen nicht verständlich machen kann.

Auch in diesem Roman steht eine unglückliche Familienkonstellation im Zentrum. Dass es dabei auch zu einer Verwechslungskomödie, zu einem realen und einem geträumten Mord kommt und sich die verkeilten Gefühle durch eine Reinkarnation am Ende in ein Versprechen auflösen, gehört zum Arsenal des Fantastischen, aus dem die Autorin grosszügig schöpft und zu dem ihre neutrale Sezierarbeit, die in die Tiefenschichten des Psychologischen dringt, in spannungsreichem Gegensatz steht.

Ulrike Baureithel