«Die Rache ist mein»: Blutet es denn wirklich?
In ihrem neuen Roman treibt die einst mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Marie NDiaye ein mitreissendes Vexierspiel mit Wahrheit und Lüge, das auch sprachlich meisterhaft ist.
«Dem Mann, der am 5. Januar 2019 schüchtern, beinahe ängstlich ihre Kanzlei betrat, war Maître Susane, wie sie sofort wusste, schon einmal begegnet, vor langer Zeit und an einem Ort, an den sie sich so genau, so jäh wieder erinnerte, dass es sich anfühlte wie ein heftiger Schlag gegen ihre Stirn.»
Wie fies ist das denn: Bereits mit dem Eröffnungssatz ihres neuen Romans befördert Marie NDiaye ihre Protagonistin aus dem Orbit – und uns Leser:innen, die wir Maître Susanes Wahrnehmung der Welt ausgeliefert sind, gleich mit. Nur merken wir das erst gar nicht, genauso wenig wie die Anwältin aus Bordeaux. Sie wird von Gilles Principaux, so heisst der geheimnisvolle Mann in ihrem Büro, mit der Verteidigung seiner Frau Marlyne bedacht. Die soll ihre drei Kinder in der Badewanne ertränkt haben. Die Tat ist unbestritten. Aber wie konnte es dazu kommen?
Fragen über Fragen
Zum scheinbar geradlinigen Krimiplot passt der Titel des Buches, «Die Rache ist mein». Bloss, so beginnt man sich alsbald zu fragen: Rache wofür und an wem? Und wer übt sie? Ist es Marlyne, die einst engagierte Lehrerin, die sich von ihrem Mann zu Hause eingesperrt, allein und in die Rolle der perfekten Mutter gedrängt fühlt? «Aber es ist Monsieur Principaux, den ich gern aus meinem Leben herausgelöst hätte», erzählt sie Maître Susane, als diese sie im Gefängnis besucht. «Aber ich konnte Monsieur Principaux ja nicht ermorden, nicht wahr.» Wäre es ihre Rache, würde sie ins Leere laufen. Denn ihrem Mann waren die Kinder eigentlich lästig, deren Mörderin hingegen liebt er «heilig, unerschütterlich».
Ist vielleicht Sharon, die Maître Susane den Haushalt besorgt, obwohl es da nichts zu putzen gibt, auf Rachefeldzug? Die Anwältin hat die mauritische Frau «aus politischem Engagement» eingestellt und kümmert sich – fast gegen Sharons Willen, so scheint es – um die Legalisierung ihres Aufenthaltsstatus. Ihre Beziehung gleicht einer kolonialen Verstrickung, allerdings mit zunehmend umgekehrten Machtverhältnissen. «Was habe ich denn an mir, Sharon, das Sie daran hindert, mich zu lieben, da ich Sie doch mit dem grössten Respekt behandle und mich grosszügig mit ihrem Fall befasse, da Sie mich ja für meine Arbeit nicht bezahlen werden?», fragt sich Maître Susane. Während Sharon mit perfekter Ironie die Unterwürfige spielt: «Ich bete jeden Abend nicht als Erstes zu Gott, sondern zu Me Susane. Ich falle auf die Knie, so, sehen Sie, und wende mich an Sie, ich flehe Sie an, uns zu Hilfe zu kommen.» Zum Schluss landet die Anwältin sogar wider Willen auf Mauritius, um die fehlenden Papiere für Sharon zu beschaffen.
Zu diesem Zeitpunkt hat sich der dumpfe Schmerz, den sie nach Principaux’ Auftritt in ihrer Kanzlei an der Stirn verspürte, zu einer eiternden Wunde ausgewachsen. Und die einst robuste Anwältin, «hoch und breit, ein majestätischer Turm», ist durch «das Leiden, das sie in Bordeaux befallen hatte», ganz «mager und wackelig» geworden. Was vor allem damit zusammenhängt, dass sie sich immer obsessiver (und im Buch kursiv gesetzt) mit der einen Frage befasst: «Wer war Gilles Principaux für sie?» War er jener Jugendliche, in den sie sich als zehnjähriges Mädchen in jenem Haus, in jenem Zimmer, unsterblich verliebt hatte? Oder wurde sie dort, wie ihr Vater behauptet, von ihm missbraucht?
Es wuchert
Marie NDiaye reizt mit ihren kunstvoll ineinander verschlungenen Sätzen, in denen sie oft den Konjunktiv verwendet (was im Französischen nochmals ungleich eleganter klingt), die Möglichkeitsformen des tatsächlich Geschehenen sprachlich bis in die feinsten Spitzen aus. «Wie oft hatte Me Susane in ihrer Jugend nicht das Gebot erhalten, dem Jungen aus Caudéron das Unrecht heimzuzahlen, das sie beim Erwachen nicht einmal sicher war erlitten zu haben, das ihre Träume ihr jedoch als unbestreitbar und schrecklich hinstellten!», sinniert die Anwältin während eines Gefängnisbesuchs bei Marlyne. Dabei hatte sie ihn doch geliebt, «diesen Jungen, der sie eingeweiht, aufgeklärt hatte», wie es andernorts heisst. Und doch hatte sie sich am Tag darauf ihre wunderschönen langen Haare abgeschnitten.
Sitzt sie Principaux in ihrer Kanzlei gegenüber, ist sie peinlich darauf bedacht, «eine unbesiegbare Frau zu sein». Angesichts der klaffenden Wunde an ihrer Stirn, die sie sich zuzog, weil sie sich für seinen Besuch aufgebrezelt hatte und auf dem vereisten Trottoir ausgerutscht war, eine zusätzliche Herausforderung. Bloss scheint Principaux gar nicht zu merken, dass sie blutet. Ist sie überhaupt real, diese Wunde, die immer weiter zu wuchern scheint in ihrem Kopf?
Selbst auf Mauritius scheint sie Gilles Principaux zu verfolgen – zumindest glaubt sie ihn bei einem nächtlichen Überfall zu erkennen, «sein fester, sicherer Griff war beinahe sanft, als habe er, wie Me Susane verworren, aber blitzschnell dachte, keinen Zweifel an ihrer Unterwerfung». Als geklärt behauptet die Anwältin einzig die Schuldfrage im Fall der getöteten Kinder vor Gericht. Doch Marie NDiaye lässt ihr – und uns Leser:innen – nicht einmal diese Gewissheit. Plädoyer und Buch enden mit: «Und wenn ich mich täuschte?»
NDiaye liest im Rahmen der «BuchBasel» online am Sonntag, 7. November 2021, um 15.30 Uhr.
Marie NDiaye: Die Rache ist mein. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag. Berlin 2021. 238 Seiten. 30 Franken