Medientagebuch: Zernagte Utopie
Bernhard Schmid über die Vorgänge bei «Le Monde»
Was ist nur bei der Zeitung «Le Monde» los? Diese Frage beschäftigt die französische Medienwelt. Eine seit Monaten schwelende Krise in der dortigen Redaktion ist nun akut geworden.
Letzte Woche traten sieben von zehn ChefredaktorInnen und Chefredaktions-StellvertreterInnen zurück. In einer gemeinsamen Erklärung beklagen sie ein «totales Fehlen von Vertrauen oder auch nur Kommunikation» zwischen JournalistInnen und der obersten «Directrice» der Zeitung, Natalie Nougayrède.
Vordergründig geht es um einen Relaunch der Printausgabe. Dieser war für Mai geplant und wurde auf September verschoben, nachdem eine Vollversammlung der Redaktion am 20. März stürmisch verlaufen war. Es geht aber auch um den geplanten Ausbau der Webredaktion: 57 redaktionelle Stellen (von insgesamt rund 400) sollen von der Papierausgabe in die Internetredaktion überführt werden. Ältere JournalistInnen, so wird befürchtet, könnten dabei einen Rücktritt vorziehen, sodass es zu einem versteckten Personalabbau käme. Und vor allem drohe durch das Aufbrechen bisheriger redaktioneller Abteilungen und durch die Expansion der Webredaktion eine Änderung der inhaltlichen Arbeit. Spezialisierungen würden aufgehoben, gleichzeitig wachse der Anteil an Tätigkeiten, die im Kern lediglich aus dem Umschreiben von Agenturmeldungen bestehen.
Hinter dem Umbauprojekt stehen laut Auffassung der KritikerInnen innerhalb und ausserhalb der Redaktion aber auch ideologische Weichenstellungen. Betrachtet man die redaktionellen Ressorts, die der Personalabbau am härtesten trifft, zeigt sich eine Tendenz: Verschwinden sollen die Rubriken «Planet» (unter anderem zuständig für Umweltpolitik), «Wohnungsproblem und soziale Ausgrenzung», «Banlieues» sowie die Abteilung «Radikale Linke», die sich auch um soziale Bewegungen kümmert. Schon seit April 2013 verfügt die Rubrik «Planet» über keine feste Seite mehr. Anfang 2014 verschwand die Rubrik «Geopolitik», die sich – jenseits des fragwürdigen Namens – fundiert mit internationalen Entwicklungen beschäftigte. Dafüpr wurde die Beilage «Wirtschaft und Unternehmen» stark ausgebaut, die immer stärker zu einem Abfeiern der «Leistungen» von privaten Wirtschaftsunternehmen hinüberglitt. Die medienkritische Initiative Acrimed («Action critique des médias») berechnete, dass im Februar 2014 ein Viertel der Artikel der Zeitung solchen Themen gewidmet war.
Bisweilen schlägt die ideologische Handschrift auch in Form von Zensur durch. Viel zitiertes Beispiel ist ein Artikel des Filmkritikers Jacques Mandelbaum vom Februar 2014. Darin ging es um «At Berkeley» des US-Dokumentarfilmers Frederick Wiseman. Wiseman schildert die Bedrohung einer kalifornischen Universität, die bis dahin als demokratisches Gegenmodell zu den nordamerikanischen Elitehochschulen wie Harvard funktionieren wollte, durch die Politik des Rückbaus öffentlicher Mittel. Der Artikel stand im Layout unter dem Titel «At Berkeley: Eine vom Neoliberalismus zernagte Utopie». Doch in letzter Minute vor Drucklegung verschwand das böse Wort «Neoliberalismus», und nun stand da nur noch: «At Berkeley: Eine bedrohte Utopie». Später räumte Redaktionsleiterin Nougayrède offen ein, dass sie das störende Wort persönlich herausgestrichen hatte. Selbst bei vorsichtiger Andeutung von Kapitalismuskritik, so heisst es, sehe die Dame rot.
Kurz vor Redaktionsschluss erfuhr die WOZ, dass Nougayrède von ihrem Posten als Chefredaktorin zurückgetreten ist.
Bernhard Schmid schreibt für die WOZ aus Paris.