«Recht auf die Stadt»: Kampf um Räume
Der französische Stadtforscher Henri Lefebvre ist wieder populär. Produktive Umsetzungen seiner Theorien, die städtische Kämpfe mit grundsätzlichen sozialen Fragen verbinden, schlägt der Geograf Daniel Mullis vor.
Henri Lefebvre werde heute in den Sozialwissenschaften «unter Ausblendung seiner revolutionstheoretischen Ambitionen» gelesen, sagte Klaus Ronneberger unlängst im Interview mit der WOZ (siehe WOZ Nr. 14/2014 ). Damit tut man dem französischen Philosophen und Stadtforscher Unrecht, der stets die Verbindung zwischen Theorie und Praxis suchte und mit seiner Philosophie auf das revolutionäre Klima im Paris der sechziger Jahre Einfluss nahm. Doch wenn heute seine Parole des «Rechts auf die Stadt» in urbanen Bewegungen wieder zum Grundvokabular zählt, wie lassen sich die damaligen Annahmen auch im 21. Jahrhundert anwenden?
Dies fragt der Geograf und Aktivist Daniel Mullis in seinem Buch. Sein Ziel ist es, Lefebvre von seinen marxistischen «Essenzialismen» zu befreien: dass die urbane Gesellschaft ein Endpunkt gesellschaftlicher Entwicklung sei oder die Arbeiterklasse das Subjekt des Wandels darstelle. Mit Rückgriff auf die Thesen von Chantal Mouffe und dem kürzlich verstorbenen Ernesto Laclau (siehe WOZ Nr. 18/2014 ) argumentiert Mullis, dass die gesellschaftliche Entwicklung grundsätzlich offen sei. Damit sei das Recht auf die Stadt nicht etwa ein Recht, das die Arbeiterklasse oder die Ausgeschlossenen einfordern könnten – sondern ein politisches Projekt, das sich erst in der Praxis durch die Verbindung vielfältiger städtischer Kämpfe realisiere.
Mullis sieht zwischen Lefebvres «autogestion» (Selbstverwaltung bzw. Partizipation) und Laclaus und Mouffes «radikaler Demokratie» eine produktive Verbindung: Durch die Praxis der Selbstverwaltung können Räume angeeignet werden, die Emanzipation ermöglichen. Räume, in denen die Differenzen, die sich im städtischen Leben besonders stark zeigen, nicht unterdrückt, sondern durch eine möglichst egalitäre politische Teilnahme einbezogen werden. Kämpfe um besetzte Räume, öffentliche Plätze oder gegen Mietsteigerungen könnten deshalb «Alternativen zum ermüdenden Abarbeiten an Windmühlen» darstellen: nicht indem die «grosse» Politik einfach ignoriert wird, sondern indem die städtischen Kämpfe als stets mit fundamentalen gesellschaftlichen Fragen verbunden gesehen werden.
Bereits die verständlichen Einführungen in die Theorien von Lefebvre einerseits und Laclau und Mouffe andererseits machen das Buch sehr lesenswert. Zudem gelingt es Mullis, beide in der Linken viel diskutierten Werke zu verbinden. Eine Auseinandersetzung mit Laclau und Mouffe birgt jedoch die Gefahr, sich auf schwer zugängliche Theoriekonstrukte einzulassen, die so gar nicht zu Lefebvres poetischem Denken und Schreiben passen. Doch Mullis schafft es, Lefebvres Praxisbezug nicht aus den Augen zu verlieren.
Daniel Mullis: Recht auf die Stadt. Von Selbstverwaltung und radikaler Demokratie. Unrast-Verlag. Münster 2014. 184 Seiten. Fr. 22.90