Linkspopulismus: Elitär gegen das Establishment

Nr. 38 –

In Deutschland arbeitet Sahra Wagenknecht mit am Aufbau ihrer Sammlungsbewegung, die Theorie dazu kommt von der Politphilosophin Chantal Mouffe. Progressiv ist beides nicht.

Ein bisschen Bewegung schadet bekanntlich nie – und was für das individuelle Wohlbefinden gilt, kann auch in der Politik nicht falsch sein. So ähnlich dürfte das zumindest Sahra Wagenknecht sehen. Die deutsche Linkspolitikerin erregt derzeit mit ihren Plänen für eine Sammlungsbewegung Aufsehen; Ziel der Organisation namens Aufstehen ist es, Kräfte über Parteigrenzen hinweg zu bündeln, um soziale Forderungen wieder in den Vordergrund zu rücken und den Aufstieg der RechtspopulistInnen der AfD zu stoppen.

Anfang September, beim offiziellen Start von Aufstehen, verkündeten Wagenknecht und ihre MitstreiterInnen, sie hätten bereits über 100 000 UnterstützerInnen gewonnen. Zum Vergleich: Die deutsche Linkspartei hat etwas mehr als 60 000 Mitglieder. Allerdings beteuern die GründerInnen der Sammlungsbewegung, nicht bei Wahlen antreten zu wollen – zumindest vorerst nicht. Zudem ist fraglich, wie aussagekräftig die präsentierten Zahlen sind: Um als Teil der Bewegung zu gelten, reicht es bislang, ein Onlineformular auszufüllen. Dennoch sollte Aufstehen nicht unterschätzt werden: Die Organisation könnte die deutsche Parteienlandschaft auf kurz oder lang umkrempeln, ähnlich womöglich, wie es der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon in Frankreich mit seiner Bewegung La France insoumise oder Podemos in Spanien vorgemacht haben.

Fast zeitgleich mit dem Start von Aufstehen ist Chantal Mouffes Plädoyer «Für einen linken Populismus» erschienen. Die belgische Theoretikerin ist die wichtigste Vordenkerin dieser politischen Strategie; gemeinsam mit ihrem 2014 verstorbenen Ehemann Ernesto Laclau hat sie in den vergangenen Jahrzehnten gewissermassen den ideologischen Überbau für Bewegungen wie Aufstehen entwickelt. Die Koinzidenz der beiden Termine mag Zufall sein, Mouffes Plädoyer erlaubt dennoch Rückschlüsse auf einen Linkspopulismus à la Aufstehen; vor allem nämlich führt ihr Manifest vor Augen, was an dieser politischen Strategie falsch ist.

Mouffe beginnt mit einer Krisendiagnose: Der Theoretikerin zufolge erleben wir derzeit international einen «populistischen Moment» – eine kaum überraschende Einschätzung in einer Zeit, in der Leute wie Donald Trump die Schlagzeilen beherrschen. Allerdings hat Mouffe den Aufstieg der Rechten lange prognostiziert: Schon in ihrer 2005 erschienenen Schrift «Über das Politische» wies sie darauf hin, dass es seit den achtziger Jahren Tendenzen gebe, die antiliberalen Kräften in die Hände spielten.

Gemeint war damit der Verfall von Politik zu einer Form des Managements: Konflikte werden nicht mehr ausgetragen, sondern unterdrückt, Parteien werden einander immer ähnlicher, und TechnokratInnen gewinnen die Oberhand. Politische Entscheidungen erscheinen damit plötzlich als «alternativlos» – so als wäre die Frage, ob man etwa marode Banken mit Steuergeldern retten soll, genauso zu beantworten wie irgendein technisches Problem.

Dies, so Mouffe, musste zwangsläufig populistische Bewegungen heraufbeschwören, die mit der Behauptung hausieren gehen, das einzige Gegenangebot zum «Establishment» zu repräsentieren. Dass etwa die deutschen RechtspopulistInnen das Wort «Alternative» schon im Parteinamen führen, macht diesen Zusammenhang auch plausibel.

Corbyn als Kronzeuge

Kontroverser ist indes Chantal Mouffes Vorschlag, wie der durch ökonomische Verwerfungen zusätzlich befeuerten Misere zu begegnen wäre: mit einem Populismus von links als Gegenprogramm zu demjenigen von rechts. «Ich bin überzeugt», schreibt Mouffe, «dass, wenn ihnen eine andere Sprache zur Verfügung gestellt wird, viele Leute ihre Situation auf eine andere Weise erleben und sich an progressiven Kämpfen beteiligen könnten.»

Zur Untermauerung dieser These beruft sie sich auf die englische Momentum-Bewegung, die Jeremy Corbyns Aufstieg an die Spitze der Labour Party vorangetrieben hat, oder auch auf Mélenchons Wahlkämpfe 2016/17; diese Kampagnen hätten die Rechten nachweislich viele Stimmen gekostet. Den Hauptteil ihres Beitrags widmet Mouffe aber nicht der Empirie, sondern der Skizze einer allgemeinen Theorie des Linkspopulismus – gewissermassen als Anleitung, wie man eine entsprechende Bewegung ins Leben ruft.

Ihr Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass es kein Zurück zur traditionellen Arbeiterklasse geben könne – das Proletariat als historischer Akteur sei passé, neuere soziale Bewegungen wie der Feminismus hätten sich schon vor Jahrzehnten vom Verdikt emanzipiert, ihre Anliegen seien blosse Nebenwidersprüche. Mouffe knüpft am postmodernen Differenzdenken an, das einst dem Universalismus des Marxismus den Krieg erklärt hatte, demzufolge die Emanzipation der Arbeit mit derjenigen der gesamten Gesellschaft in eins falle. Ihr Linkspopulismus kennt dagegen keine privilegierten Kämpfe mehr, stattdessen sei aus einer Vielzahl gleichberechtigter Anliegen ein gemeinsames Subjekt zu formen. Einen Namen für ein solches Kollektiv hat Mouffe auch schon zur Hand: Es ist das «Volk».

Die Demokratie radikalisieren!

Einmal vereint, soll dieses das «Establishment» herausfordern, damit dem postdemokratischen Spuk ein Ende bereiten und die neoliberale Hegemonie durch eine linke ersetzen; dann, so das Kalkül, könnten Feministinnen, Klimaaktivisten, AntirassistInnen und Prekäre soziale und politische Rechte ausbauen und so die Demokratie radikalisieren.

Nun weiss die Philosophin Mouffe natürlich, dass dieses Programm gerade für die Linke eine Provokation ist: sich ausgerechnet in der Gegenwart positiv auf das «Volk» zu berufen, wirkt reaktionär. Mouffe beharrt allerdings darauf, dass dieses Wort immer noch für zahllose Menschen positiv besetzt sei und daher gewaltige Energien entfesseln könne; ihrer Ansicht nach wäre es ein Fehler, eine solche Waffe den Rechten zu überlassen, zumal «Volk» ursprünglich nicht eine Nation, sondern die unteren Klassen bezeichnet habe.

Letzteres mag etymologisch richtig sein; dennoch ist erstaunlich, dass Mouffe nicht sieht, wie sie sich gerade in diesem Punkt in Ungereimtheiten verstrickt: Erst betont sie, wie wichtig die Kritik an nivellierenden Allgemeinbegriffen, wie zentral gerade in komplexen postindustriellen Gesellschaften die Achtung unaufhebbarer Differenzen seien – und nur einen Atemzug später plädiert sie dafür, alle Vielfalt wieder einzuebnen, indem sie unter dem Banner des notorisch wolkigen Wortes «Volk» versammelt werden soll. So aber wird zwangsläufig alle Pluralität, aus der sich ja eigentlich erst politisches Handeln speist, wieder zum Verschwinden gebracht.

Wer befreit hier wen?

Naheliegend ist noch ein zweiter Einwand: Natürlich weiss Mouffe, dass Kategorien wie «Volk» oder «Establishment» analytisch nichts taugen, wenn man ernsthaft versucht, die Gegenwart zu beschreiben; auch der promovierten Ökonomin Wagenknecht dürfte klar sein, dass es verkürzt ist, wenn sie in Talkshows die Gier der «Finanzmafia» geisselt. Man müsse den Leuten halt ein wenig nach dem Mund reden, meint Mouffe – anders als die «extreme Linke», die völlig unempfänglich für die wirklichen Anliegen der Menschen sei.

Nun mögen soziologische Detailfragen die Massen tatsächlich selten in Wallung bringen; eine Politik aber, die davon ausgeht, dass die meisten Leute ohnehin zu dumm sind, um gesellschaftliche Widersprüche angemessen zu begreifen, ist autoritär. Sie setzt voraus, dass es eine Elite Eingeweihter geben muss, die weiss, wie die Masse tickt und wie sie in Bewegung zu versetzen ist. Wie verquer und anmassend dieser Ansatz ist, zeigt in der Praxis das Vorhaben eines Zirkels deutscher BerufspolitikerInnen, eine «Bewegung» von oben herab auszurufen; denn natürlich lassen sich wirkliche Bewegungen nicht einfach gründen.

Eine linkspopulistische Strategie dürfte also, sollte sie denn Erfolg haben, vor allem dazu führen, dass eine Elite durch eine andere ersetzt wird. «Elitenzirkulation» nannte das der Soziologie Vilfredo Pareto. Womöglich wäre gerade hier an eine Mahnung des alten Marx zu erinnern: dass die Befreiung der Unterdrückten deren eigenes Werk sein muss.