Agrarpolitik I: Luxusjoghurts für die Reichen Europas produzieren

Nr. 21 –

«Mehr Markt» ist ein agrarpolitisches Schlagwort der letzten zwanzig Jahre. Zum Beispiel schlägt der Bundesrat vor, für alle Milchprodukte die Grenzen zwischen EU und der Schweiz zu öffnen. Was wären die Folgen?

Die Lebensmittelproduktion ist längst industrialisiert: In diesem Fallstromverdampfer der Hochdorf Nutritec im Luzerner Seetal wird Milch zur Pulverherstellung konzentriert. Foto: Ursula Häne

Die Milch soll reisen – zumindest will das der Bundesrat. Letzte Woche hat er einen Bericht über einen möglichen Milchfreihandel zwischen der Schweiz und der EU veröffentlicht. Das Parlament hatte den Auftrag dafür gegeben, um besser über diese Option entscheiden zu können. Der Bundesrat ist optimistisch: Für «wertschöpfungsstarke Produkte» könnten neue Märkte erschlossen werden, der Wettbewerbsdruck würde zu «Kostensenkungen und Innovationen» führen, und es gäbe weniger Anreiz zum Einkaufstourismus. Für Käse sind die Grenzen zu Europa bereits seit 2007 offen. Beim neuen Vorschlag geht es nun um alle anderen Milchprodukte.

Werner Locher ist Milchbauer im Zürcher Dorf Bonstetten. In den letzten Monaten bekam er rund 65 Rappen pro Kilo Milch. «Das reicht, um die Rechnungen zu bezahlen, aber nicht für Investitionen oder Abschreibungen.» Bei einer Marktöffnung, prognostiziert der Bundesrat, sänke der ProduzentInnenpreis auf 47 Rappen. Weil einige aus der Milchproduktion aussteigen würden, ginge die Milchmenge um sechs Prozent zurück.

Locher hält diese Zahl für weit untertrieben. Mindestens zwanzig Prozent weniger Milch erwartet er, der Rückgang könnte aber auch noch viel stärker sein. «Ich kenne so viele, die schon unter den heutigen Bedingungen über einen Ausstieg nachdenken.»

Die Grossen hören auf

Eine Studie der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften Zollikofen (HAFL) stützt Lochers Einschätzung. Sie hat die Folgen eines Milchfreihandels auf allen Stufen untersucht – Bauernbetriebe, Milchhandel, Verarbeitungsindustrie und Detailhandel. Die AutorInnen haben für vierzehn Landwirtschaftsbetriebe berechnet, wie sich die sinkenden Preise auswirken würden: «Gespräche mit den Betriebsleitern zeigen, dass sie sich bereits mit dem aktuellen Milchpreis im Grenzbereich des betriebswirtschaftlich und emotional Tragbaren befinden. Schon eine zusätzliche Preissenkung um wenige Rappen würde ihren weiteren Verbleib in der Milchproduktion infrage stellen.» Und zwar sind es gerade die «fortschrittlich organisierten, hoch spezialisierten Betriebe in günstigen Lagen», die zuerst aussteigen würden. Sie hätten unter den höchsten Verlusten zu leiden, weil der Milcherlös einen hohen Anteil ihres Einkommens ausmacht. Im Berggebiet wäre die Situation etwas weniger dramatisch, weil dort der Anteil der Direktzahlungen am Einkommen höher ist.

Ohne Abfederung würde die Marktöffnung für die MilchproduzentInnen hart, sagte auch Bernard Lehmann, Direktor des Bundesamts für Landwirtschaft, an der Pressekonferenz letzte Woche. Doch der Bundesrat hat vorgesorgt: Es schlägt neue Flächenbeiträge vor, 800 Franken pro Hektare Grünland auf Milchbetrieben. Damit liessen sich die Einkommensausfälle kompensieren, und den Staat würde es nur 100 bis 150 Millionen mehr kosten. Für die untersuchten Betriebe würden 800 Franken pro Hektare aber bei weitem nicht reichen, sagt Therese Haller, Leiterin der HAFL-Studie.

Und was passiert auf der Stufe Verarbeitung und Detailhandel? Auch hier ist die HAFL weniger optimistisch als der Bundesrat. «Die Schweizer Hersteller würden nicht nur im Tiefpreissegment, sondern auch im Hochpreissegment eine starke Konkurrenz erhalten», sagt Therese Haller. «Es gibt im Ausland starke Marken wie Danone oder Müller Milch, für die der Schweizer Markt interessant ist. Umgekehrt ist für diese Produktegruppe im Export viel Aufbauarbeit nötig. Das darf nicht unterschätzt werden.» Haller zweifelt auch daran, dass der Milchfreihandel einen Einfluss auf den Einkaufstourismus hätte: «Milchprodukte werden auch im Ausland eingekauft, aber ich bezweifle, dass sie die treibenden Produkte sind.» Viel wichtiger sei das Fleisch.

Joghurt ist nicht Käse

«Der Käse als Mutmacher», titelte die NZZ letzten Herbst: Der Käsefreihandel zeige, dass die Liberalisierung Chancen biete. Doch zum Käse, dem sprichwörtlichen Schweizer Produkt, haben KonsumentInnen im In- und Ausland einen emotionaleren Bezug als etwa zu Joghurt. Ob die KonsumentInnen bei Molkereiprodukten für «Swissness» einen Aufpreis bezahlen, ist fraglich. Das betont auch ein Detailhandelsvertreter, den die HAFL befragt hat. Dazu kommt: So gut sind die Erfahrungen mit dem Käsefreihandel auch wieder nicht. Die Exporte stiegen zwar, noch stärker aber die Importe. Und im ersten Quartal 2014 sind die Käseexporte regelrecht eingebrochen. Für KonsumentInnen im Ausland ist Schweizer Käse ein Luxusprodukt.

Und genau darauf läuft der Milchfreihandel hinaus: Die Schweiz produziert Luxusprodukte für die Reichen Europas und importiert Billigware für die eigenen Armen (und Geizigen). Bei allen unsicheren Prognosen ist klar, dass dabei etwas sicher zunimmt: der Verkehr. Doch die Transporte würden bei den «Umweltwirkungen» kaum ins Gewicht fallen, behauptet der Bundesrat.

Milch ist empfindlich und verdirbt schnell. Anders als etwa bei Getreide und Hartkäse, mit denen seit Jahrhunderten gehandelt wird, sind weite Reisen von Molkereiprodukten erst möglich, seit es lückenlose Kühlketten gibt. Aber sind sie deswegen auch sinnvoll? Landwirt Werner Locher engagiert sich im European Milk Board mit BerufskollegInnen aus ganz Europa dafür, dass die MilchproduzentInnen bei Produktionsmenge und Preis mitreden können. «Wir kämpfen für regionale Märkte, nicht für globalisierte», sagt er.