Kommentar zur Milchpolitik in Europa und der Schweiz: Lieber die Milchmenge steuern als betteln

Nr. 38 –

In der EU gibt es keine Milchquote mehr – das führt zu Überschuss, Preiszerfall und Protesten. Sollte die Schweiz da wirklich den Milchmarkt öffnen?

Sie kamen mit tausend Traktoren, warfen Eier auf die Polizei und zündeten Strohballen an: Letzte Woche legten 6000 MilchproduzentInnen aus ganz Europa die Innenstadt von Brüssel lahm. Die EU-AgrarministerInnen, die dort tagten, beschlossen 500 Millionen Euro Soforthilfe. Viel mehr war aus den Medien nicht zu erfahren: Aha, die Bauern wollen mehr Geld vom Staat, wie immer.

In Tat und Wahrheit ist die Geschichte komplizierter. In Brüssel vermischten sich zwei Demos – ihre Forderungen könnten kaum gegensätzlicher sein.

Am 1. April dieses Jahres hat die EU ihre Milchkontingentierung, Milchquote genannt, abgeschafft. Seither ist die Milchmenge um vier Prozent gestiegen, die Molkereien bezahlen gerade noch zwanzig bis dreissig Cent pro Liter. Viele Milchbetriebe stehen vor dem Ruin. Um die Milchbranche auf den «freien Markt» vorzubereiten, hat die EU die Quote vor der Abschaffung systematisch erhöht. Bis 2014 schien das gut zu gehen: Die globale Nachfrage wuchs. Doch nun hat Russland die Importe aus der EU gestoppt, und China, das Zielland der Exportträume, baut eigene riesige Milchfarmen. Jetzt erleben alle europäischen MilchproduzentInnen – egal ob sie für oder gegen die Quote waren –, wie zerstörerisch Weltmarktabhängigkeit sein kann.

Wie reagieren? Die Copa-Cogeca, der Dachverband der europäischen Bauernverbände und Agrargenossenschaften, dem auch der Deutsche Bauernverband (DBV) angehört, glaubt weiterhin an schrankenlose Produktion und eine «Exportstrategie». Sie fordert mehr Geld und weniger Umweltschutzauflagen.

«Wir wollen gar kein Geld», sagt dagegen der niedersächsische Milchbauer Ottmar Ilchmann von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), «sondern ein europaweites Steuerungsinstrument, um im Krisenfall die Milchmenge koordiniert reduzieren zu können. Die Überschüsse machen den Preis kaputt.» Die AbL ist Mitglied des European Milk Board (EMB), das sich seit Jahren für eine Mengensteuerung einsetzt. Das EMB mobilisierte den grossen Teil der LandwirtInnen nach Brüssel. «Wir vom EMB waren etwa 5000, die Copa-Leute ein paar Hundert», sagt ein Schweizer Milchbauer, der dabei war.

In einer Pressemitteilung schrieb die Copa-Cogeca, sie habe die 6000 Leute allein mobilisiert. «Kein guter Stil» sei diese Behauptung, kommentierte sogar «Top Agrar», ein deutsches Branchenblatt, das nicht durch kritische Berichterstattung auffällt. «So läuft es immer wieder», sagt Ottmar Ilchmann von der AbL. «Wir mobilisieren, die Minister sehen: Da sind wütende Bauern auf der Strasse – und setzen Forderungen von DBV und Copa um. Die 500 Millionen Euro sind reine Kosmetik, das Problem ist strukturell.»

Wie sich die Geschichten gleichen: In der Schweiz wurde die Milchkontingentierung schon im Frühling 2009 abgeschafft. Was seither geschah – Überproduktion, Preiszerfall, Strukturwandel –, wiederholt sich nun in der EU in einem viel grösseren und dramatischeren Ausmass. Mit dem Unterschied, dass es dort jetzt schon Betriebe mit Hunderten von Kühen gibt. Unter dem enormen Wachstums- und Preisdruck leiden nicht nur die MilchbäuerInnen, sondern auch die Tiere. Wer tausend Kühe hat, lässt sie nie auf die Weide, der Arbeitsaufwand wäre viel zu gross.

Milch ist eigentlich das ideale Regionalprodukt: Sie wird in ganz Europa produziert, verdirbt schnell, und ihr Transport ist aufwendig. Doch der «freie Markt» zerstört die Strukturen, die eine sinnvolle Regionalversorgung ermöglichen. Exportieren und Importieren wird zum Selbstzweck; Tanklastwagen fahren quer durch Europa, um noch den kleinsten Preisvorteil auszunutzen.

Am Erscheinungstag dieser WOZ diskutiert der Schweizer Nationalrat wieder einmal über eine mögliche Öffnung des Milchmarkts (siehe WOZ Nr. 21/2014 ). Eine solche Öffnung würde den Druck, der in der EU herrscht, eins zu eins auf die hiesige Milchwirtschaft übertragen. Wer es ernst meint mit Menschen-, Tier- und Klimaschutz, kann dazu nur Nein sagen.