«Falsches Quartett» : Vier Menschen zwischen Himmel und Hölle

Nr. 21 –

Martin R. Dean unternimmt mit seinem mal kurzweiligen, mal langatmigen Roman eine risikoreiche Gratwanderung auf dem Terrain der Pubertät. Dabei ist Eros die treibende Kraft.

Illustration: Franziska Meyer

Ein Mann verliert den Halt, eine Ehe ist am Ende, eine junge Frau zerbricht. Martin R. Deans Roman «Falsches Quartett» wiegt schwer. Vieles geht der allwissende Erzähler in dem zweiteiligen Gegenwartsdrama an. Zu viel auf einmal?

«Falsches Quartett» ist ein Buch über das Erwachsenwerden und die sinnstiftende Liebe. Eros ist die treibende Kraft, und das «Wagnis der Dichtung und Deutung», das im Lehrplan 21 immer weniger Platz hat, liefert den roten Faden. Das Drama spielt sich im Umfeld der Schule ab. Der Autor schöpft dabei aus dem realen Leben: Dean ist Gymnasiallehrer.

Grundstimmung, herbstlich

Hauptschauplatz ist eine Internatsschule, irgendwo zwischen dem Schweizer Mittelland und den Alpen, an der Lucas Brenner Deutsch unterrichtet. Einsam thront der klassizistische Bau aus «knochenbleichem» Sandstein auf einem Hügel, «dem Himmel näher als der Hölle». Zwei Jahre später und fast 280 teils kurzweilige, teils eher langatmige Romanseiten weiter ist nichts mehr so, wie es war. Die Schlussszene könnte radikal beides sein, Wunschtraum oder Albtraum: Zwei Menschen finden wieder zueinander – oder sie sind sich endgültig abhandengekommen.

Bei dem titelgebenden Quartett handelt es sich um den 43-jährigen Lucas Brenner und seine ungefähr gleichaltrige Frau Lisa sowie zwei neue SchülerInnen in Brenners Klasse, Nadia Breitenmoser (18) und den um ein Jahr älteren Deniz Karmann. Der Erzähler führt sie in verschiedenen Formationen und unterschiedlicher Intensität zu- und auseinander, in der fiktionalen Realität ebenso wie in der Vorstellungskraft der Figuren. Diese weisen glaubhafte Züge auf, wirken meist plausibel – die psychologische Erzählweise ist eine Stärke dieses in der Grundstimmung herbstlich gehaltenen Romans.

Leitmotiv, tragisch

Lehrer Brenner ist ein schwärmerischer Geist. Er brennt für die deutsche Literatur zwischen Sturm und Drang und Spätromantik. Im Unterricht behandelt er das Märchen vom Froschkönig in der Nacherzählung der Brüder Grimm (in einer postpsychoanalytischen Deutung), und auch die tragische Novelle «Romeo und Julia auf dem Dorfe» von Gottfried Keller, ein Leitmotiv des Romans, hat es ihm angetan.

Doch Lucas Brenner ist ein armer Kerl: Der Lehrer lebt so sehr durch seine Bücher, dass er blind dafür ist, was in ihm und um ihn herum geschieht. Die Literatur habe ihm in seiner Jugend «eine neue Welt aufgetan» und «über Nacht zu einem anderen Selbstwertgefühl verholfen», erzählt er seiner Lieblingsschülerin Nadia, um sie aus ihrer mysteriösen Apathie zu holen. Er berichtet vom «Glücksgefühl, wenn eine Klasse etwas von dem begreift, was Literatur ausmacht».

Konterkariert wird seine Schwärmerei ausgerechnet von Nadia, deren «Seele sich von der Literatur ernährt» – so jedenfalls sieht es ihr Lehrer. «Brenner ist ein Totalneurotiker», sagt sie zu Deniz. «Er erstickt doch, wenn man seine Bücher nicht mag.»

Spiegelfiguren, doppelt

Nadia ist eine faszinierende Figur, eine Elfe, obwohl es harte Fakten über sie gibt: Der Vater ist abgehauen, die Mutter lässt ihre Tochter nicht los, und diese hat sich in die Occupy-Bewegung geflüchtet. Nadia hat grosse dunkle Augen, das Gesicht einer Madonna, durchsichtige Haut und einen schlaksigen Körper. Sie hat eine starke erotische Anziehungskraft – und ekelt sich wie eine Magersüchtige vor jeglicher Sinnlichkeit. Sie ist introvertiert und kratzbürstig, dominant und zerbrechlich. Frau und Kind ist im Ungleichgewicht, jenes «Zwitterhafte vieler Geschöpfe, die zwischen mädchenhafter Unbedarftheit und frühem Erwachsensein stecken», meint Lisa, die befürchtet, dass ihr Mann eine Affäre mit seiner Schülerin hat.

Sowohl Lucas Brenner als auch Deniz Karmann verlieben sich in Nadia. Ersterer versucht zu verdrängen, dass er mit ihr ins Bett will. Letzterer strebt genau das an, doch Nadia weist ihn jedes Mal, wenn es ans Körperliche geht, auf unwirsche Weise zurück. So wie Deniz in gewisser Weise den überlegenen Konterpart zu Lehrer Brenner darstellt – der eingewanderte Türke aus dem neuen Deutschland ist ein recht kräftiger, bodenständiger Bursche mit gesundem Trieb –, bilden auch Nadia und Lisa Brenner ein ungleiches Paar. Während Nadia immer tiefer in die lebensbedrohliche Dunkelheit versinkt, kann sich Lisa wieder aufrappeln und fotografiert für ihre erste Kunstausstellung junge «Gesichter, die von der Gefährdung des Lebens erzählen».

Nach einem Stelldichein zwischen Lisa und der jungen Nadia denkt die Ältere: «Warum gab es so wenig gelassene, freudige und angstfreie Gesichter unter ihnen?» «Falsches Quartett», das von der Identitätssuche junger Menschen handelt, lässt auch diese Frage unbeantwortet. Was Martin R. Dean mit Nadia geschehen lässt, gibt wenig Grund zur Hoffnung – spiel mir das Lied vom Tod, und ich sage dir, wie das Leben hätte sein können.

Martin R. Dean: Falsches Quartett. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2014. 287 Seiten. Fr. 33.20

Denk-Zettel für den Nachwuchs

Immer wenn Stipendien genehmigt und Nachwuchspreise vergeben werden, wird über Sinn und Unsinn der «Schreibschulen» lamentiert, ob in Hildesheim oder Leipzig ansässig oder in Biel. Ist der Geniekult, die Vorstellung, sich wie Albrecht von Haller vor umwerfendem Alpenpanorama von der Muse küssen zu lassen, vereinbar mit dem Schreiben als Handwerk? Fallen die Gesellenstücke nicht zwingend so aus wie das, was Tischlerlehrlinge so zuwege bringen, zumal wenn Lehrmeister die Façon vorgeben?

Dass sich die Lehrlinge in Sachen Literatur doch nicht so einfach biegen und brechen lassen, beweist «Liesette Littéraire», die Zeitschrift des besagten Bieler Instituts, das, wie etwa Dorothee Elmiger beweist, ein Sprungbrett zu Höherem werden kann. Verantwortet wird sie von den Studierenden, die nicht nur die Texte schreiben, sondern diese gegenseitig auch noch übersetzen, sodass sie im ganzen Land verstanden werden können, «in der Fabrik, in der Post, auf den Bergen oder im Zirkus».

Ich habe mich auf der Wiese vor der Berliner Humboldt-Universität damit vergnügt. Auch wenn allenthalben ein bisschen viel selbstbewusstes Ich daherkommt, sind die Kompositionen eigenständig und der Sound individuell. Immer zweistimmig, auf Deutsch und Französisch, voll lautmalerischer Abenteuer. Am besten gefielen mir Schuschan Awagjans Mitteilungen über eine Archivreise ins armenische Eriwan. Bis ich über die Endzeile aus «Behauptungen und Unwahrheiten» von Fabian Saurer stolperte: «Unbeschreibliche Glücksgefühle sind dem Dichter ein Dorn im Auge.» Ein Denk-Zettel für den Nachwuchs.

Ulrike Baureithel

«La Liesette Littéraire». Printemps 2014. 
Als Carte blanche in «Le Persil». 10 Franken.