Porträt: Im Zentrum steht das Haushaltseinkommen
Die Waadtländer SP-Nationalrätin und Professorin Cesla Amarelle nennt sich proeuropäisch, steht einem EU-Beitritt jedoch kritisch gegenüber. Politisch geprägt worden ist sie durch die Bleiberechtbewegung 2004.
Seit dem 9. Februar ist sie praktisch ununterbrochen auf Tour. Sie referiert über juristische Aspekte der Freizügigkeit und warnt vor den Folgen von Kontingenten. Cesla Amarelle ist gleichzeitig Professorin für Migrationsrecht an der Universität Neuenburg, SP-Nationalrätin, Präsidentin der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats, Vizepräsidentin der SP Frauen Schweiz, Politaktivistin und Mutter von zwei Kindern. Wie schafft sie das? Sie lacht. «Ich bin in der glücklichen Lage, dass Forschung, Lehre und politisches Handeln bei mir in einem engen Zusammenhang stehen.»
Nun, was sagt die Rechtsprofessorin zu den Folgen der Abstimmung vom 9. Februar? «Zurzeit streiten sich die Juristen, ob der Initiativtext einen Handlungsspielraum für bilaterale Verhandlungen offenlässt.» Bundesrat und Parlament bleibe nur, das Volk in einer neuen Abstimmung über die Zukunft des bilateralen Wegs entscheiden zu lassen. Christoph Blocher trete aus dem Nationalrat zurück, weil er seine grösste Schlacht vorbereite. «Er wird Fundamentalopposition machen. Sein Ziel ist die Wiedereinführung einer Kategorie von rechtlosen Migranten ohne Familiennachzug. Und dies ist mit den Grundrechten der EU unvereinbar.»
Die Utopie im Namen
Soll die Schweiz, als Ausweg aus der Sackgasse, der EU beitreten? Cesla Amarelle ist keine begeisterte Anhängerin dieser Idee. «Ich bin proeuropäisch, sicher, aber ich finde, dass ohne eine grundlegende wirtschaftliche und soziale Demokratisierung der EU und ihrer Institutionen, insbesondere der Zentralbank und des Gerichtshofs, ein Beitritt sehr schwierig ist.» Der Gerichtshof setze Liberalisierungen auf juristischem Weg durch, ohne dass die Politik etwas dazu zu sagen habe: «Wenn die Schweiz damals Mitglied gewesen wäre, hätten wir die radikale Liberalisierung des Elektrizitätsmarkts nicht bekämpfen und verhindern können!» Und was die Zentralbank in zwanzig Jahren wirkungsloser Austeritätspolitik mit der Unterstützung der tonangebenden Mitgliedstaaten und der EU-Kommission angerichtet habe, sei «eine wirtschaftliche, soziale und menschliche Katastrophe».
Cesla Amarelle wurde 1971 in Uruguay geboren. Der Grossvater war Zeitungsverleger, ihre Eltern waren beide Mitglieder von revolutionären linken Gruppierungen, die ab Ende der sechziger und bis in die siebziger Jahre aus dem Untergrund gegen das autoritäre Regime agierten. Kurz nach ihrer Geburt verstärkte sich die blutige Repression insbesondere gegen die Tupamaros, denen Cesla Amarelles Mutter angehörte, und ihre Eltern mussten ausreisen. Der Vorname Cesla steht für «Comunidad de los estados socialistas latinoamericanos». Nicht immer hat sie leicht daran getragen, doch heute kann sie darüber lächeln. «Ich verstehe, dass das die grosse Utopie der Generation meiner Eltern war, ein sozialistisches Lateinamerika.»
«Klassische Sozialdemokratin»
Cesla Amarelle trägt den Namen als «positives Vermächtnis», denn auch sie hat als junge Frau die Erfahrung einer prägenden sozialen Bewegung gemacht, der Bewegung der 523 im Jahr 2004. Christoph Blocher, damals Bundesrat, wollte 523 Kosovoflüchtlinge ausschaffen, die seit über zehn Jahren im Kanton Waadt ohne Asylentscheid lebten. Während zweier Jahre arbeitete Amarelle aktiv an einer spektakulären Kampagne für ihr Bleiberecht mit, die mit der Regularisierung der Sans-Papiers endete. «Nun studieren Kinder der ‹523› bei mir an der Universität», freut sich Cesla. Vergangenen Freitag war sie mit dabei, als die Bewegung ihr Zehnjahrjubiläum beging. «Wir feierten unseren Sieg, aber wir erinnerten uns auch an die Angst, an das Leiden, an den Mut der Betroffenen in einer harten Zeit.» Sie selbst hatte sich damals entschlossen, statt europäisches Recht die junge Disziplin des Migrationsrechts weiterzustudieren und von der ausserparlamentarischen Bewegung in die Politik einzusteigen.
In ihren seltenen freien Stunden steht Cesla Amarelle heute am Infostand ihrer Partei in Yverdon und sammelt Unterschriften. Die Waadtländer SP fordert, dass nicht mehr als zehn Prozent des verfügbaren Einkommens für Krankenkassenprämien bezahlt werden müssen. «Die Debatte um das verfügbare Einkommen eines Haushalts ist zentral», ist Amarelle überzeugt. In den letzten zehn Jahren sei es in der Schweiz kontinuierlich gesunken. Wenn die SP glaubwürdig bleiben wolle, müsse sie dagegen eine umfassende Strategie entwickeln, die die Bereiche Sozialpolitik, Steuerpolitik, Gesundheitspolitik und Wohnpolitik mit einbezieht. «Im Kanton Waadt ist uns dies dank einer progressiven Sozialpolitik bis zu einem gewissen Grad bereits gelungen. Die SP-Initiative will diese Entwicklung stärken.» Als «klassische Sozialdemokratin» ist sie überzeugt, dass Fremdenhass und nationalistischer Populismus nur zu besiegen sind, wenn die Bevölkerung über korrekte Arbeits- und Lebensbedingungen verfügt.