Hitlergruss-Urteil: Lieber ein Antirassismusgesetz mit Mängeln als keines

Nr. 23 –

Das Bundesgericht spricht einen Neonazi frei, der den Hitlergruss machte. Rechtsradikale freuen sich über das Urteil. Haben sich die RichterInnen geirrt? Auch Linke sind sich uneins.

Handbuch des Schreckens: Hitlergruss … Fotos: Andreas Bodmer

Das Urteil irritierte auch im Ausland. «Schweizer Gericht erlaubt den Hitlergruss», titelte «Spiegel Online». Die Vorgeschichte: Neonazis versammeln sich 2008 auf dem Rütli. Während sie den Rütlischwur aus Schillers «Wilhelm Tell» aufsagen, hebt einer die Hand zum Hitlergruss. Das Urner Obergericht verurteilt ihn dafür wegen Rassendiskriminierung. Nun hat das Bundesgericht den Neonazi freigesprochen.

Das Urteil ist von zwei SVP-Richtern, einem grünen, einer CVP-Richterin und dem SP-Mann Niklaus Oberholzer gefällt worden. Oberholzer gilt als brillanter, linker Jurist.

Gegenüber der WOZ sagt Oberholzer, er könne Urteile, an denen er beteiligt gewesen sei, nicht kommentieren, aber das Urteil sei einstimmig erfolgt, und er stehe voll und ganz dahinter.

Antirassismus mit Vorbehalten

Im September 1994 musste über das Antirassismusgesetz abgestimmt werden, weil rechtsreaktionäre Gruppierungen – unter anderem Christoph Blochers «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz» (Auns) – das Referendum ergriffen hatten.

Die Vorlage wurde angenommen. Allerdings hatte die Bundesregierung Vorbehalte angebracht, die die Schweiz in zwei Punkten davon befreit, sich an die Konvention zu halten. Der eine Vorbehalt betrifft das Verbot von rassistischer Propaganda und von Organisationen, die rassistische Propaganda betreiben, weshalb die Mitgliedschaft in rassistischen Vereinen nicht geahndet werden kann. Der zweite Vorbehalt betrifft die «Gesetzgebung über die Zulassung von Ausländerinnen und Ausländern zum schweizerischen Arbeitsmarkt», womit die Schweiz offen eingestand, dass sie eine Arbeitsmarktpolitik betreibt, die StaatsbürgerInnen, die nicht aus Industriestaaten kommen, benachteiligt. Die Vorbehalte sind bis heute in Kraft.

«Es muss vor der Illusion gewarnt werden, dass das neue Gesetz den Rassismus und Antisemitismus eliminieren könnte», sagte Michael Kohn, der ehemalige Präsident des Israelitischen Gemeindebunds, während des Abstimmungskampfs: «Ein Antisemit bleibt ein Antisemit: Er soll bloss aufzupassen beginnen, wenn er zu geifern beginnt.»

Die Bürgerlichen inklusive der SVP standen offiziell hinter der Strafnorm. Doch nur wenige Wochen nach der Antirassismusvorlage kamen die «Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht» zur Abstimmung, die es seither erlauben, AusländerInnen ohne konkreten Verdacht und ohne Urteil während Monaten in Vorbereitungs- und Ausschaffungshaft zu nehmen.

Auf der einen Seite wollte man Rassismus mit dem Strafrecht begegnen, schuf aber parallel dazu diskriminierendes Recht.

Linke JuristInnen warnten auch vor einem wachsenden Glauben an das Strafrecht, weil sich damit keine gesellschaftspolitischen Probleme lösen liessen. Zudem berge das Antirassismusgesetz die Gefahr, dass eine klare Linie zwischen erlaubtem und illegalem Rassismus gezogen würde und die Rechten künftig gezielt an dieser Grenze entlang agieren und provozieren würden.

Hanspeter Uster, ein prononcierter linker Jurist und damals Polizeidirektor von Zug, stand für das Gesetz ein, warnte aber zugleich davor. Das Gesetz gebe vor, RassistInnen und Antisemitismus zu verurteilen, heikel werde es, wenn die RassistInnen in Wirklichkeit dann kaum behelligt würden: «Das kann zu einem Verlust der Glaubwürdigkeit des Strafrechtssystems führen, letztlich aber auch zu einem Legitimationsdefizit des Staats und damit auch derjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die eine solche Norm gefordert haben.»

In all diesen Dilemmas stecken wir noch immer.

Doris Angst, langjährige Geschäftsführerin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) wünscht sich heute eine eindeutigere und vor allem beherztere Rechtsprechung: «Das Antirassismusgesetz wird oft restriktiv ausgelegt, sodass Äusserungen und Handlungen, welche die Öffentlichkeit als rassistisch empfindet, nicht geahndet werden.» Konkret zum Hitlergruss-Urteil meint sie: «Stossend ist, dass die Bundesrichter einen Aufmarsch auf dem Rütli nicht insgesamt als ‹werbende› Situation einschätzten und einen in diesem Zusammenhang gezeigten Hitlergruss nicht dementsprechend verurteilten.»

In den vergangenen Jahren gab es den Versuch, das Gesetz schärfer zu formulieren und auch rassistische Organisationen wie rechtsextreme Gesten und Symbole zu verbieten.

«Leider ist das Vorhaben gescheitert», bedauert Angst, «die Erweiterung des Strafrechtsartikels wurde 2010 mit dem Argument abgelehnt: zu schwammig, zu viel Rechtsunsicherheit.» Es wäre sicher schwierig gewesen, eine umfassende Liste mit den Symbolen zu erstellen, die verboten werden müssten. «Ohne diese Revision bleibt aber auch der Hitlergruss prinzipiell erlaubt», konstatiert Angst.

Keine Gesinnungsjustiz

Alex Sutter von der Menschenrechtsorganisation Humanrights.ch schätzt das Bundesgerichtsurteil etwas anders ein. Das Gericht habe eine dünne Linie zwischen dem strafbaren und dem nicht strafbaren Zeigen des Hitlergrusses gezogen: «Demnach ist der öffentlich gezeigte Hitlergruss nicht strafbar, wenn er hauptsächlich dem Ausdruck des eigenen Bekenntnisses zur Naziideologie dient.» Denn laut Gesetz ist weder die nazistische Gesinnung noch das Bekenntnis zur Gesinnung strafbar. «Diese Rechtslage straft jene Rechtspopulisten und -populistinnen Lügen, die nicht müde werden zu behaupten, das Antirassismusgesetz sei das Instrument einer Gesinnungsjustiz», sagt Sutter.

Gesinnungsjustiz darf in einem modernen Strafrecht keinen Platz haben, deshalb kann ein Bundesrichter wie Niklaus Oberholzer auch hinter dem Hitlergruss-Urteil stehen.

Anders wäre es, wenn der Hitlergruss zum Beispiel bei einem Fackelzug vor einem Durchgangszentrum für AsylbewerberInnen oder vor einer Synagoge gezeigt würde. Dann ginge es darum, Menschen einzuschüchtern – in diesem Kontext wäre der Hitlergruss deshalb strafbar.

Alex Sutter ist auch zurückhaltend, wenn es darum geht, das Antirassismusgesetz zu verschärfen und Organisationen wie Symbole zu verbieten: «Eine solche repressive Strategie dünkt mich nur dann ratsam, wenn solche Organisationen und Symbole gefährlich viel gesellschaftlichen Raum einnehmen. Dann muss man irgendwann den Deckel draufhalten. Aber in der heutigen Situation wären solche rigorosen Verbote vermutlich kontraproduktiv: Das heizt bekanntlich die ‹Untergrundbewegung› mit ihrer für die Jungen faszinierenden Folklore an.»

Das Antirassismusgesetz hat Mängel und weist diverse «inhaltliche wie juristische Konstruktionsfehler» auf, wie Sutter sagt: «Es wäre aber ein Fehler, eine Gesamtrevision des Gesetzes zu fordern. Denn angesichts der grundsätzlichen Ablehnung durch die politische Rechte wäre dies ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang.»

… Quenelle-Gruss aus Frankreich …
… Kühnen-Gruss, bei der Pnos beliebt.

Diesbezüglich sind sich Angst und Sutter einig: Heute geht es vor allem darum, die Strafnorm, wie sie steht, gegen Abschaffungsmanöver von rechts zu verteidigen.

Alltäglicher Rassismus: Sich wehren ist wichtig

Offensichtlicher Rechtsextremismus wie der demonstrative Hitlergruss stösst in der breiten Öffentlichkeit auf Ablehnung. Schwierig wird es bei Alltagsrassismus und subtiler Diskriminierung. Das Beratungsnetz für Rassismusopfer unterhält mehrere Beratungsstellen und dokumentiert in Zusammenarbeit mit Humanrights.ch und der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus die Vorfälle.

Der neuste Monitoringbericht wird in der zweiten Junihälfte erscheinen. Die darin aufgeführten Fälle zeigen, wie wichtig es ist, sich zu wehren – auch wenn es nicht zu einer strafrechtlichen Verurteilung kommt.

Zum Beispiel der Fall von Rami Ifa*: Der Tunesier wird in einer grossen Schweizer Stadt in einem Warenhaus von einem Sicherheitsangestellten beschimpft, schikaniert und bedroht. Er versucht, sich verbal zu wehren, worauf ihn der Security-Mann körperlich bedrängt.

Ifa sucht eine der Beratungsstellen auf. Diese nimmt mit der Geschäftsleitung des Warenhauses Kontakt auf. Das Gespräch wird verweigert. Daraufhin meldet die Beratungsstelle den Vorfall dem Hauptsitz der Firma. Erst jetzt werden die Beratungsstelle und Rami Ifa zu einem Gespräch eingeladen. Der beteiligte Security-Mann beharrt auf seiner Sichtweise. Das Gespräch wird abgebrochen.

Ifa beginnt sich – mithilfe der Beratungsstelle – juristisch zu wehren. Nun sucht das Warenhaus das Gespräch. Ifa erhält eine finanzielle Genugtuung, der Security-Mann entschuldigt sich persönlich bei ihm.

Susan Boos

* Name geändert.

www.network-racism.ch