Bolivien: Ein Pflaster auf die Altersarmut
Ausgerechnet in Bolivien, dem ärmsten Land Südamerikas, gibt es eine flächendeckende Mindestrente. Leben aber lässt sich davon nicht.
Carmen Rosa hält ihren Rentenausdruck von der AFP, einem in ganz Lateinamerika verbreiteten privaten Rentenfonds, in der Hand. Lange Kolonnen von Zahlen stehen darauf. Um nicht lange suchen zu müssen, fragt die 56-Jährige: «Wie hoch ist denn nun meine monatliche Rente?» Die Beraterin auf der anderen Seite des Schreibtischs zückt den Taschenrechner, rechnet kurz nach und schreibt ein paar Zahlen auf einen Zettel: «1190 Bolivianos» steht nun dort, knapp 150 Franken. Carmen Rosa macht ein griesgrämiges Gesicht. Die Frau mit dem grau melierten Haar hat mit mehr gerechnet – für fast zwanzig Arbeitsjahre am Empfangstresen einer internationalen Hilfsorganisation in Cochabamba, der viertgrössten Stadt Boliviens.
Doch zum Glück ist das nicht alles. Auf ihrem Konto bei der staatlichen Rentenversicherung Senasir hat die Sekretärin ein paar weitere Beitragsjahre – nur sind die noch nicht digitalisiert. «Üppig wird es aber in jedem Fall nicht. Insgesamt werde ich kaum über 2000 Bolivianos kommen.» Das sind rund 250 Franken. Für bolivianische Verhältnisse nicht schlecht. Die meisten angehenden RentnerInnen haben kaum oder nur unregelmässig in die Rentenfonds eingezahlt.
Nicht existenzsichernd
Das weiss auch die Regierung von Präsident Evo Morales und hat deshalb Ende 2007 die Renta Dignidad, die Rente der Würde, eingeführt. 250 Bolivianos, rund 31 Franken, erhalten seither alle, die keinerlei sonstigen Rentenanspruch haben. Alle anderen bekommen ab dem 60. Lebensjahr einen Zuschuss von 200 Bolivianos. Damit soll die Altersarmut im ärmsten Land Südamerikas gelindert werden, was RentenexpertInnen von der Interamerikanischen Entwicklungsbank jüngst ausdrücklich gelobt haben. In Bolivien hätten deutlich mehr Menschen einen Rentenanspruch als in den ungleich reicheren Ländern Argentinien, Brasilien und Chile. Rund 97 Prozent der RentnerInnen werden erreicht. Weil sie gleichzeitig kostenlosen Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem haben, ist Bolivien für die Entwicklungsbank ein Vorbild für die Region.
«Das ist vor allem für die alten Leute auf dem Land ein Segen», sagt Cristina Cardozo. Die Sozialexpertin eines Hilfswerks ist viel in Bolivien unterwegs und weiss, dass es die alten Leute sind, die den EnkelInnen die Feldarbeit beibringen. «Für sie ist die Rente ein wichtiges Zubrot, und sie werden in den Familien mehr geachtet, weil sie ein eigenes Einkommen haben», weiss Cardozo. Wer aber nicht in eine Grossfamilie eingebunden ist, kann es sich kaum leisten, in den Ruhestand zu gehen. «Die erworbenen Ansprüche reichen schlicht nicht aus, um davon zu leben», sagt Bruno Rojas, Rentenexperte am Institut für Arbeits- und Agrarentwicklung in La Paz. «Wir haben das Problem, dass nur 21 Prozent der ökonomisch aktiven Bevölkerung in die Rentenfonds einzahlen.» Das sind 1,6 Millionen BolivianerInnen – und auch die haben meist nicht regelmässig Beiträge geleistet.
Das Problem der Altersarmut ist hausgemacht. Mitte der achtziger Jahre wurde die Arbeitsgesetzgebung gelockert, formale Arbeitsverhältnisse gingen massenhaft verloren. Löhne wurden eingefroren, das Rentensystem modifiziert. «Während in den siebziger Jahren die Beiträge zur Rentenkasse auf drei Schultern verteilt waren, ist es heute im wesentlichen der Arbeiter oder die Angestellte, der oder die einzahlt», erklärt Rojas.
Der Staat hat sich zurückgezogen
Zu Beginn der siebziger Jahre hatte der Staat noch zwanzig, die Unternehmen sieben Prozent eines Bruttolohns an die Rentenkasse überwiesen. Heute zahlen die Unternehmen noch drei Prozent ein, der Staat hat sich ganz zurückgezogen. Die ArbeiterInnen finanzieren ihre magere Rente so gut wie allein. Für Rojas ist die Renta Dignidad nicht mehr als ein Signal, mit dem die Regierung auf die Altersarmut reagiert habe. An den Strukturen aber ändere sie nichts: «Sie verdeckt nur die staatliche Mitverantwortung für die Schieflage des Rentensystems.»
Wie Bolivien haben auch andere Staaten der Region das 1981 in Chile verordnete Modell kopiert, bei dem die staatliche Rentenkasse durch private Sparfonds ersetzt wurde. Das auf einem Generationenvertrag basierende Umlageverfahren wurde durch ein individuelles Kapitaldeckungsverfahren ersetzt. Das damit verbundene Versprechen hat sich nicht erfüllt. «Die Rentenfonds sind nicht wie erhofft dank Aktienkäufen angeschwollen, sondern im Gegenteil oft geschrumpft», sagt Rojas. In Chile muss der Staat immer wieder mit Finanzspritzen einspringen, in Argentinien wurden die privaten Rentenfonds wieder verstaatlicht. Auch in Bolivien ist das Modell nicht erfolgreich: Die Fonds sind alles andere als liquide.