Fussball und andere Randsportarten: Die Bereitschaft zu bestrafen
Pedro Lenz über den Biss der Erinnerung und die Schweizer Scharfrichterseele
Wir schauen Fussballweltmeisterschaft, um uns später daran zu erinnern. Wer viele Weltmeisterschaften gesehen hat, wird von jeder ein paar Erinnerungen haben. Vom aktuellen Turnier werden wir irgendwann erzählen können, wir erinnerten uns an den Biss des Uruguayers Luis Suárez im Spiel gegen Italien. Der Biss wird mit der Zeit grösser und gefährlicher werden. Suárez wird uns mit jedem Jahr rücksichtsloser und wilder in Erinnerung bleiben. Und selbst diejenigen, die nicht sahen, ob und wie Suárez zubiss, werden sich noch künstlich empören, wenn sie ihren Grosskindern davon erzählen.
Fussball ist ein Spiel, das von Zweikämpfen lebt. Manche Zweikämpfe sind sauber, andere bewegen sich an der Grenze des Erlaubten, und wieder andere gelten als unfair. Es liegt in der Natur des Fussballsports, dass die meisten Regelverletzungen von den Füssen ausgehen. Tritte ans Schienbein, Tritte in die Ferse, Tritte ins Knie oder Tritte an die Wade, das sind lauter Regelverstösse, die wir täglich sehen und gleich wieder vergessen. Ähnlich verhält es sich mit den meisten Fouls, die von Hand begangen werden. Festhalten, Klammern, Zupfen oder Stossen gehören zum ganz normalen Fussballalltag.
Seltener und schlimmer als Tritte in die Beine sind alle Arten von Tritten in den Unterleib, in den Oberkörper oder an den Kopf. Sie geschehen meist unbeabsichtigt, wirken aber fast immer brutal und schmerzhaft. Unschön sind ausserdem alle Arten von Fausthieben, Ellbogenschlägen und Kopfstössen. Wer jedoch regelmässig Fussball schaut, gewöhnt sich ein bisschen an all die beschriebenen Arten der Unsportlichkeit, weil sie immer wieder vorkommen. Und selbst das Anspucken von Rivalen ist längst keine Seltenheit mehr.
Dass nun ein Fussballer wie Luis Suárez seine Zähne einsetzt, um einen Gegenspieler zu stoppen, das kommt so selten vor, dass wir Fans uns wohl nie daran gewöhnen werden. Jemanden kaputt treten, das können wir zur Not noch gelten lassen. Jemanden blutig schlagen, das finden wir unter Umständen auch okay. Aber die Zähne einsetzen, da hört alles auf. Sobald die Zähne im Spiel sind, spielt es auch überhaupt keine Rolle mehr, was die Folgen der Attacke sind. Beissen ist das letzte Tabu im Profifussball. Wir hören das Verb «beissen» und denken reflexartig an die Höchststrafe.
Im konkreten Fall, dem Suárez-Biss an der laufenden Weltmeisterschaft, war es ja so, dass der Biss keinen Einfluss auf den Spielverlauf hatte und das Bissopfer vollkommen unverletzt blieb. Mehr noch, es ist selbst bei der Betrachtung von Dutzenden von Zeitlupenaufnahmen nicht klar erkennbar, ob die Zähne des Angreifers an die Schulter des Verteidigers gehen oder umgekehrt.
Jetzt hat das Inquisitionsgericht der Fifa entschieden, dass Luis Suárez für neun Wettbewerbsspiele mit der Nationalmannschaft gesperrt wird und ausserdem während der nächsten vier Monate keinen Match mehr spielen darf. Damit dürfte der Mann mit dem Vorbiss für insgesamt etwa vierzig bis fünfzig Spiele gesperrt sein.
Wer die einschlägigen LeserInnenkommentare in Sportzeitungen liest und den Menschen auf der Strasse zuhört, kommt nun zur Erkenntnis, dass eine Mehrheit der Fussballfans in der Schweiz dies als viel zu milde empfindet. Wenn es um strengere Strafen geht, scheint die Bevölkerung dieses Landes geeint. Könnten wir in der Schweiz über die Einführung der Todesstrafe abstimmen, wäre sie längst eingeführt. Könnten wir über das Strafmass für einen beissenden Fussballer abstimmen, der Mann würde nie mehr Fussball spielen. Unsere Bereitschaft zu bestrafen steht in keinem Verhältnis zu unserer Bereitschaft zu verzeihen. Das mag mit Fussball direkt nichts zu tun zu haben. Aber im Fussball wird die eidgenössische Scharfrichterseele zuweilen für einen Augenblick spürbar.
Pedro Lenz (49) ist Schriftsteller und lebt in Olten. Im Fussball und im Leben plädiert er für mildere Strafen.