«Der Kreis»: Gehemmter Bürgersohn und flamboyanter Prinz
In seinem Dokudrama «Der Kreis» blendet Stefan Haupt zurück zu den Anfängen der Schweizer Schwulenbewegung – und erinnert daran, dass seine Protagonisten das Recht auf ihr privates Glück hart erkämpfen mussten.
Es ist eine Episode, wie sie der grösste Kitschbruder nicht schöner erfinden könnte. Zürich 1956: Wir sind an einem Schwulenball, auf der Bühne steht eine bezaubernde Blondine und singt, wie einst Marlene Dietrich: «Ich weiss nicht, zu wem ich gehöre», das Lied einer aufreizend ungebundenen Frau, die niemandem Treue schwören mag. Im Saal sitzt der junge Lehrer Ernst Ostertag und wettet hundert Stutz, viel Geld damals, dass das eine Frau sei, die da singt. Die Wette verliert er, dafür gewinnt er die Liebe seines Lebens. Die Hochzeit aber muss dann noch fast ein halbes Jahrhundert warten, denn seine Liebe ist ein Mann: Röbi Rapp, die täuschend echte Frau mit der Stimme aus Samt.
«Das war die beste Investition meines Lebens», sagt Ostertag heute über das Geld, das er bei jener Wette verloren hat. Im Film «Der Kreis» sehen wir den 84-Jährigen daheim auf dem Sofa sitzen, neben ihm der gleichaltrige, nicht ganz so redselige Röbi Rapp. Und zusammen liefern sie dem Regisseur Stefan Haupt («Utopia Blues») nun die Anekdoten und Stichworte für die filmische Rückschau auf die Anfänge ihrer Liebe, als Zürich einige Jahre lang Europas heimliche Schwulenhauptstadt war.
Charmante Zeitzeugen
Das war das Verdienst der Anfang der dreissiger Jahre gegründeten Untergrundorganisation «Der Kreis», die nicht nur für Zürich eine Vorreiterrolle im Kampf um Schwulenrechte spielte. Ihre Maskenbälle im Theater am Neumarkt strahlten weit über die Schweiz hinaus, die Zeitschrift «Der Kreis» wurde auch nach Deutschland geschmuggelt (im Film ist es Anatole Taubman als schwuler Kommunist, der diesen Job übernimmt). Das Heft war mehrsprachig, und wenn ein Text die Grenzen zum Pornografischen kitzelte, wurde er wohlweislich auf Englisch gedruckt: Man habe halt gewusst, erklärt Ostertag im Film, dass bei der Sittenpolizei, die den Inhalt genehmigen musste, niemand Englisch konnte.
Der Film von Stefan Haupt taucht in den «Kreis» ein, und er tut das in dieser neuerdings so populären Mischform aus Spiel- und Dokumentarfilm, die zuletzt bei «Hugo Koblet» und «Verliebte Feinde» so leidlich funktioniert hat. Das hat oft etwas Behelfsmässiges, und im ungünstigsten Fall sieht man einem Film vor allem an, dass das Budget halt nicht für ein abendfüllendes historisches Gewand gereicht hat.
Das Geld hat auch bei «Der Kreis» eine Rolle gespielt, aber hier wirkt das nie, als wäre die Form des Dokudramas aus der finanziellen Not geboren. Die Regie macht auch kein grosses Aufheben darum, dass hier Spielszenen mit dokumentarischen Interviews wechseln. Klar, im Dokumentarischen hätte man sich etwas mehr Gestaltungswillen gewünscht, die Gespräche wirken irgendwie abgefilmt. Aber wer so charmante Zeitzeugen wie Ostertag und Rapp vor die Kamera bekommt, sollte nicht leichtfertig auf Interviews mit ihnen verzichten, bloss weil in einem reinen Spielfilm kein Platz dafür wäre.
Aus unterschiedlichen Lebenswelten
Dazu kommt, dass sich zwischen damals und heute ein faszinierender Spiegeleffekt einstellt: In den Interviews ist es Ostertag, der munter drauflosplaudert, während Rapp oft leicht verlegen daneben sitzt – in den historischen Spielfilmszenen ist es genau umgekehrt. Da spielt Matthias Hungerbühler den jungen Ernst als gehemmten Bürgersohn mit leidendem Blick, während Sven Schelker als Röbi die Szene beherrscht wie ein flamboyanter Prinz, nach dem sich alle umdrehen.
Die beiden Männer leben aber auch unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen mit ihrer sexuellen Identität. Der Coiffeur und Travestiekünstler Rapp wohnt bei seiner deutschen Mutter (Marianne Sägebrecht), die kein Problem damit hat, dass ihr Sohn schwul ist. Ostertag dagegen macht sich als junger Lehrer schon verdächtig, wenn er mit seiner Mädchenklasse Albert Camus lesen will – zu subversiv! Und das Doppelleben, zu dem er sich vor seiner streng bürgerlichen Familie gezwungen sieht, wird erst ein Ende haben, als die Mutter stirbt, und da ist Ostertag schon pensioniert.
Mit ihrer Bilderbuchliebe samt spät offizialisiertem Happy End beim Standesamt sind Ostertag und Rapp natürlich ein Glücksfall für diesen Film, menschlich wie dramaturgisch. Aber hier wird nicht einfach ein privates Glück gefeiert, denn diese Liebe ist nicht zu trennen von den gesellschaftlichen und politischen Hindernissen, denen sie trotzte. Dass es im «Kreis» auch tragischere Lebensläufe gab, daran erinnert im Film nicht zuletzt die Figur des Rektors (Peter Jecklin), der den jungen Ostertag zum angepassten Lehrer erziehen will. Und als die Zürcher Schwulenszene Ende der fünfziger Jahre von Morden im Strichermilieu aufgeschreckt wird, setzt jene Spirale von Repression und polizeilicher Einschüchterungstaktik ein, die erst zu einem Verbot der Schwulenbälle führte und 1967, nach einer Reihe von Razzien, zur Auflösung des «Kreises». Dann kamen die Globus-Krawalle, die Schwulen verschwanden aus dem Visier der Polizei – die hatte nun anderes zu tun.
Zum Schluss steigt die Blondine wieder auf die Bühne, diesmal als alte Diva. «Ich weiss nicht, zu wem ich gehöre», singt Röbi Rapp nochmals, und man hängt ihm wieder an den Lippen, auch wenn das eine dicke Lüge ist, was er da singt. Schliesslich weiss er ganz genau, zu wem er gehört, seit bald sechzig Jahren.
«Der Kreis». Schweiz 2014. Regie: Stefan Haupt. Ab 18. September in den Kinos.