Demonstrationen in Hongkong: Ein kollektives Erlebnis der ganz anderen Art

Nr. 40 –

Die GegnerInnen der Demonstrierenden in Hongkong sind übermächtig. Dennoch lohnt sich der Protest – allein schon wegen der Erfahrung von Solidarität und Ermächtigung.

Ob die seit einer Woche stattfindenden Demonstrationen in Hongkong zu mehr Demokratie führen, ist derzeit noch ungewiss. Die sogenannte Schirmrevolution lässt die Bevölkerung aber in jedem Fall die Monotonie des Alltags vergessen: Die sonst so diszipliniert arbeitende und in Arbeit, Familie und Sozialleben weitgehend auf Anpassung und Gehorsam geschulte Bevölkerung erfährt eine karnevaleske Unterbrechung des sonst so strengen Lebens.

Erstmals erleben die Menschen, dass mehrere wichtige Verkehrsachsen der Stadt über mehrere Tage für den Verkehr gesperrt werden. Die Demonstrierenden haben sie zur Bummel- und Partyzone, zum offenen Forum für politische Schulung umgenutzt. Diese Inbesitznahme des öffentlichen Raums ist, sollten alle anderen Forderungen scheitern, ein nicht zu unterschätzendes Erlebnis für alle Beteiligten. An einem Ort, der so dramatisch kommerzialisiert ist wie Hongkong, ist die demokratische Besetzung der sonst von endlosen Autokolonnen verstopften Strassen eine Kontrasterfahrung, die Spuren hinterlassen wird. Diese kollektive Selbstermächtigung steht im krassen Gegensatz zum gewohnten Alltag, in dem die Macht des Stärkeren praktisch unbeschränkt gilt.

Der Erfolg der Bewegung liegt in dieser Leistung: in einem auf Konsens und Unterordnung trainierten Umfeld ein politisches Erwachen auszulösen, das nicht so schnell wieder unterdrückt werden kann. Die Demonstrationen verlaufen aber nicht zuletzt deshalb so friedlich, weil alle Beteiligten wissen, dass der Gegner übermächtig ist und dass alle, die auf Veränderung hoffen, Geduld brauchen, um zum Ziel zu gelangen. Denn sie treten gegen einen Entscheid an, der an höchster Stelle gefällt worden ist: Das chinesische Parlament will nur scheinbar demokratische Wahlen gewähren, und die zwei bis drei KandidatInnen für die Regierungsführung sollen von einem Beijing-freundlichen Komitee nominiert werden.

Eine Rücknahme dieses Beschlusses käme einem politischen Wunder gleich. Denn dies wäre ein massiver Gesichtsverlust für Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping, der mit seinem autokratischen Gebaren in den vergangenen zwei Jahren seine eigene Macht enorm erweitert hat. Zudem würde die Rücknahme des Parlamentsentscheids ein Präjudiz für die Macht des Volks schaffen, das womöglich NachahmerInnen in China finden könnte. Das oberste Gebot für die Zentralregierung Chinas ist Stabilität, das heisst Stabilität der Macht. Deshalb sind die wichtigsten Verbündeten dieser nur noch dem Namen nach kommunistischen Partei die wirtschaftlich mächtigsten UnternehmerInnen Hongkongs. Diese sind ebenso auf Stabilität angewiesen, um weiterhin in einem sie selbst begünstigenden politischen Umfeld Geschäfte zu treiben.

Dass viele HongkongerInnen von Beijing enttäuscht sind, hat mehrere Gründe: Erstens versprach die Zentralregierung, dass die Wahl des politischen Oberhaupts Hongkongs 2017 demokratisch sein würde. Zweitens wäre Hongkong mit seiner funktionierenden Zivilgesellschaft, der immer noch freien Presse, der wirtschaftlichen Offenheit und dem relativen Wohlstand der perfekte Ort für eine probeweise Einführung von demokratischen Wahlen, die für ganz China eine Art Testlauf sein könnten. Die Absage an diese Form von Demokratie bedeutet, dass sie für China noch weit entfernt ist. Es ist deshalb kein Wunder, dass sich etliche StudentInnen aus der Volksrepublik vehement für Streik und Proteste aussprechen. Denn wie soll politische Veränderung in China gelingen, wenn sie nicht einmal in Hongkong möglich ist?

Die sich in den Demonstrationen entladende Enttäuschung wird von einem Gefühl genährt, eine stete Aushöhlung dessen zu erleben, was die Besonderheit Hongkongs ausmacht: Die Pressefreiheit geht zusehends in der Selbstzensur der an guten Beziehungen zu China interessierten Medienhäuser unter; der Versuch der Regierung vor zwei Jahren, patriotische Bildung im Lehrplan zu verankern, erschien vielen als Bedrohung kritischer und unabhängiger Bildung und erinnerte sie an die maoistische Gehirnwäsche; Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz, die zum Wichtigsten gehört, was Hongkong von China unterscheidet, wiederholen sich; und der wachsende Einkaufstourismus von ChinesInnen in Hongkong spült zwar Geschäftsleuten und WohnungsspekulantInnen viel Geld in die Kasse, doch verteuert er das Leben vieler vor allem ärmerer Menschen.

Kurzfristig spricht vieles gegen einen Erfolg der DemonstrantInnen. Doch längerfristig ermöglicht die Bewegung vielen eine Erfahrung von Selbstbestimmung, die auch von einer repressiven chinesischen Regierung und ihren Gefolgsleuten in Hongkong nicht so schnell vergessen gemacht werden kann.

Tobias Brandner ist Journalist und Gefängnisseelsorger in Hongkong.