Die sozialistische Stadträtin von Seattle : «Die Menschen sind hungrig nach Wandel»

Nr. 42 –

Völlig überraschend wurde 2013 die Sozialistin Kshama Sawant in die Legislative von Seattle gewählt. Sie erklärt, weshalb ausgerechnet in Seattle die Kampagne für einen Mindestlohn von fünfzehn Dollar erfolgreich war und was das mit ihrer Wahl zu tun hat.

Kshama Sawant Die Ökonomin Kshama Sawant (41) stammt ursprünglich aus dem indischen Bundesstaat Maharashtra. Seit 2006 lebt sie in Seattle, wo sie der trotzkistischen Partei Sozialistische Alternative beitrat und sich in verschiedenen sozialen Bewegungen engagierte. Seit 2010 ist sie Bürgerin der USA. Im November 2013 wurde sie in die neunköpfige Legislative von Seattle gewählt.

WOZ: Frau Sawant, Sie sind als Mitglied der Sozialistischen Alternative Stadträtin von Seattle. Was können Sie in dieser Position erreichen?
Kshama Sawant: Die meisten Bürger sind von der Politik angewidert. Die Politiker repräsentieren die Interessen der grossen Unternehmen, der CEOs und Superreichen. Es gibt fast keine Diskussion darüber, wie die Armen leben, was der grossen Mehrheit der Arbeiter während der Rezession passierte oder wie man etwa die Probleme der Verschuldung von Studenten löst. Zwar sind neue Arbeitsstellen geschaffen worden, doch es handelt sich zumeist um Tieflohnjobs. Viele können sich die Mieten oder Hypotheken für ihre Häuser nicht mehr leisten und werden auf die Strasse gestellt. Ich kann solche Themen in die öffentliche Diskussion bringen. Die Menschen sind hungrig nach Wandel. Aber solange es nur die beiden Parteien gibt, die Demokraten und Republikaner, sehen sie keine Perspektive. Sie denken, das Bestehende ist das Beste, was es gibt. Wir haben in unserem Wahlkampf immer klargemacht: Es wird keine Hinterzimmerdeals geben, etwa mit den Bauunternehmen und anderen grossen Firmen. Wir sind loyal zur Arbeiterklasse.

Verstehe ich Sie richtig: Allein haben Sie hier im Stadthaus nichts auszurichten. Sie sind nur aufgrund einer Bewegung draussen stark?
Absolut. Die Bewegung braucht eine Stimme, und die Stimme braucht eine Bewegung. Mein sechsstelliger Lohn fliesst in einen Solidaritätsfonds, der die Bewegung unterstützt. Wir wollen ein Beispiel setzen. Es geht nicht um mich als Einzelperson und um meine persönliche politische Karriere. Mein Wert misst sich daran, wie weit ich die Interessen der Leute vertrete.

Was heisst das konkret?
In den Sitzungen des Stadtrats bringe ich die Stimme der Arbeiterklasse ein – was eigentlich immer misslingt. Ich kann mich nicht durchsetzen. Es ist meist wie immer. Der Stadtrat verhandelt irgendwelche Berichte, aber die enthalten nie wirklich Dringendes. Wir müssen uns der Dringlichkeit bewusst werden, um die Probleme zu lösen. Wie wir günstigen Wohnraum und gute Löhne schaffen. Wo immer ich hingehe, bringe ich diese Dringlichkeit ein.

In Seattle hat eine breite Kampagne erreicht, dass der Mindestlohn schrittweise auf fünfzehn Dollar angehoben wird. Wie bedeutend ist das für die gesamte Arbeiterbewegung?
Wir haben hier in Seattle einen Sieg errungen, der die Moral der Arbeiterklasse stärkt. Das kann die Leute zum Handeln bewegen. Nachdem wir während Jahrzehnten verloren haben, ist ein Sieg wirklich zentral, er ist ein erstes Hoffnungssignal.

Wieso gelang das gerade in Seattle?
Die Occupy-Bewegung war in Seattle sehr wichtig. Es gab in der Linken eine Öffnung. Meine Organisation wollte nicht nur radikale Reden schwingen, wir sagten uns, hier werden wir eine offene, breite sozialistische Kampagne fahren und nicht um den heissen Brei rumreden. Wir sagten ganz klar, wir brauchen fünfzehn Dollar Mindestlohn, Mietpreiskontrolle, eine Steuer für Millionäre. Es gibt aber noch etwas anderes, was an Seattle speziell ist: Die Arbeiterbewegung und die Bewegung der Tieflohnbezügerinnen kämpften schon vorher in Seatac, einer Nachbarstadt von Seattle, für fünfzehn Dollar Minimallohn. Diese Bewegung brachte die Energie nach Seattle. Sie können in irgendein Café oder an eine Bushaltestelle gehen, die Leute reden darüber.

Bei den steigenden Mietpreisen in Seattle sind doch auch fünfzehn Dollar nicht genug?
Klar, es ist nicht genug. Aber «Fünfzehn Dollar» war als Slogan, als politische Forderung, sehr wichtig. Es hat eine Richtung aufgezeigt. Es war ein sehr guter Start.

Sie sind Ökonomin. In der Theorie sollten die Löhne automatisch steigen, wenn, wie hier in Seattle, die Arbeitslosigkeit tief ist und die Wirtschaft boomt.
In der Realität sind die Löhne der Tieflohnbezüger nicht einfach abhängig von Angebot und Nachfrage. Es kommt darauf an, ob die Arbeiter in einer Gewerkschaft sind. Seit Jahrzehnten stagnieren die Löhne oder sinken sogar, weil der gewerkschaftliche Organisationsgrad zurückgeht.

Aber die Beschäftigungsverhältnisse sind heute für viele völlig anders. In grossen Fabriken ist es für die Gewerkschaften einfacher, Mitglieder zu werben, als in kleinen Imbissbuden.
Klar gibt es heute andere Herausforderungen. Doch ich glaube, die Arbeiterbewegung kann auch heute stärker werden. Die Strukturen dazu werden anders sein als früher. Dabei geht es nicht nur um emotionale Solidarität, es geht auch um strategische Planung, die nötig ist, um gegen die Macht der Bosse erfolgreich zu sein. Diese Lektionen werden die jüngeren Arbeiter selbst lernen.

Gibt es in Seattle Anzeichen dafür?
Noch vor zwei Jahren hatten die Beschäftigten von McDonald’s keine Vorstellung davon, was es heisst, mit anderen Arbeitern von anderen Betrieben solidarisch zu sein. Doch inzwischen haben Leute, die dort arbeiten, gemerkt, dass sie schon zu viert eine McDonald’s-Filiale bestreiken können. Sie sind dabei Teil einer grösseren Gruppe von Arbeitern, zu der auch Bürgerorganisationen und Gewerkschaften gehören. Von denen erhalten sie Unterstützung. Die sagen, wenn ihr streiken wollt, dann stehen wir hinter euch. Diese Erfahrung verändert die Arbeiter. Sie spüren die Macht, die sie haben, wenn viele andere Arbeiter draussen auf sie warten.

In Seattle werden derzeit viele neue Büros und Wohnungen gebaut. Die Stadtbehörden unterstützen das. Zu Recht?
Was derzeit in Seattle passiert, ist eine umfassende Umsiedlung von Arbeitern vom Stadtzentrum an die Ränder der Stadt und aus der Stadt heraus. Nur wenige der neuen Wohnungen sind für eine grosse Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung bezahlbar. Und ich rede hier nicht einmal von den Fastfoodarbeitern und den Ärmsten. Die Politik hat in den letzten Jahren vor allem den Bauunternehmen geholfen.

Aber es kommen gut ausgebildete, gut verdienende Leute in die Stadt, die viel Steuern zahlen. Ist das nicht gut für die Stadt?
Bei uns im Bundesstaat Washington wird das Einkommen nicht besteuert. Die Reichen, die in die Stadt ziehen, bringen der Stadt nur beschränkte Zusatzeinnahmen bei der Verkaufssteuer. Solange die Reichen nicht für ihre Kapitalgewinne und ihre Einkommen und die Firmen für ihre Profite besteuert werden, sehen wir keinen tiefgreifenden Wandel. Der Stadt fehlt es an allen Ecken und Enden an Geld.

Wie wollen Sie denn die Wohnprobleme lösen?
Es braucht eine Mietpreiskontrolle. Doch in Washington ist es den Städten verboten, eine Mietpreiskontrolle einzuführen. Wenn ich das Thema anspreche, heisst es, das ist gegen das Gesetz. Aber ungerechte Gesetze müssen bekämpft werden. Dazu müssen wir eine grosse Bewegung aufbauen.

Siehe auch den Bericht über den Onlineversandhändler Amazon und die Obdachlosensiedlung Tent City 3 in Seattle.