Soziale Bewegungen in den USA: «Die wollen die ganze Stadt kaufen»

Nr. 43 –

Wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl und mitten in der Coronakrise: unterwegs mit Aktivistinnen der wiedererstarkten Streikbewegung in der Amazon-Metropole Seattle, wo sich der Gegensatz zwischen Arm und Reich besonders krass zeigt.

  • Das Hauptquartier von Amazon: In Seattle arbeiten 50 000 meist hoch bezahlte Menschen für den Konzern.
  • «Ich bin Klassenverräterin, ist das nicht toll?»: Für Mietaktivistin Holly Blue* sind die DemokratInnen nur der andere Flügel der Bourgeoisie.
  • Wo sich die Polizei nicht hintraut: Im von der Antifa beschützten Cal Anderson Park hat sich ein kleines Obdachlosencamp gebildet.
  • «Die meisten kapieren nun, dass wir nicht nur wegen des Virus so in der Tinte sitzen»: Mimi Harris* kämpft für bessere Arbeitsbedingungen.

Wer im Herbst der Coronapandemie durch die USA reist, erlebt ein gespenstisches Land. In den sonst so geschäftigen Städten wandert man fast allein durch die Schluchten zwischen den Hochhäusern der Downtowns. In den Hipstervierteln geht man an mit Holzbrettern verbarrikadierten Schaufenstern vorbei. Gaststätten trotzen der Pandemie, indem sie Tische rausstellen, doch die improvisierten Gartenwirtschaften füllen sich auch bei unsaisonal schönem Wetter nicht. Busse fahren leer durch die Quartiere. Wer kann, arbeitet von zu Hause aus – falls sie oder er noch einen Job hat: Über 25 Millionen Menschen haben seit April ihre Stelle verloren.

Neue Generation, neue Energie

Durch eine solche Coronageisterstadt führt Mimi Harris*: Seattle. Es ist ihre Heimatstadt – und die ihres Arbeitgebers Amazon. Eigentlich könne sie sich glücklich schätzen, scherzt die Endzwanzigerin, immerhin sei ihre Stelle als Lageristin sicher, durch Corona bricht das Versandgeschäft Rekorde. Mit dem Amazon-Logo auf ihrer Maske könnte man denken, Harris sei eine glühende Verfechterin des Konzerns. Doch ihr rotes T-Shirt verrät sie. Darauf steht: «Sozialismus oder Barbarei». Harris ist Teil einer lokalen Kampagne, die dafür kämpft, dem Weltkonzern Steuern abzugewinnen. Ausserdem versucht sie, ihre ArbeitskollegInnen im Lager gewerkschaftlich zu organisieren. Deshalb möchte sie ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen; sie fürchtet, entlassen zu werden.

Harris ist Teil einer neuen Generation, die in den USA mit neuer Energie gegen Ausbeutung und wirtschaftliche Ungleichheit kämpft. Bereits seit Jahren kommt es immer häufiger zu riesigen Streiks. Die Coronakrise hat der Radikalisierung der jungen Generation weiter Auftrieb verliehen. «Covid-19 hat die Erwartungshaltung der Menschen völlig verändert», sagt Harris, die ursprünglich einen Kreativberuf gelernt hat. In Seattle übernahmen AnarchistInnen gar einen ganzen Stadtteil. Nachdem die Polizei im Juni während Black-Lives-Matter-Protesten einen Posten räumte, wurde das Hipsterviertel Capitol Hill drei Wochen lang zur befreiten Capitol Hill Autonomous Zone (Chaz).

Seit dem Beginn der Pandemie ist es im ganzen Land zu Hunderten Streiks und Arbeitsniederlegungen gekommen, von 4000 ArbeiterInnen einer Fabrik von General Electric in St. Louis bis zu den VerkäuferInnen einer Kette von Sexshops in Boston. «Wir essenziellen Angestellten fragen uns: Warum gibt mein Arbeitgeber mir keine Schutzausrüstung? Warum kann die Regierung plötzlich Milliarden in die Arbeitslosenversicherung pumpen, nachdem sie uns seit Jahrzehnten sagen, wir könnten uns das nicht leisten?»

Harris spricht das erhöhte Arbeitslosengeld an. Normalerweise deckt es nur etwa dreissig Prozent des letzten Einkommens. Doch in der Krise hat der Kongress die wöchentlichen Zahlungen auf 600 US-Dollar erhöht – das ist mehr, als viele Menschen in Niedriglohnjobs verdienen. Denn die Pandemie hat Dinge möglich gemacht, die in den USA noch im Februar utopisch wirkten: Sans-Papiers gelten als essenzielle ArbeiterInnen, Coronatests und -behandlungen sind kassenpflichtig, Hausräumungen sind ausgesetzt, und staatliche Gelder fliessen grosszügig. «Die meisten kapieren auf einmal, dass wir nicht nur wegen des Virus so in der Tinte sitzen», sagt Harris, «sondern wegen eines Gesundheitssystems, das nur die versichert, die einen guten Job haben – und wegen Löhnen, die so tief sind, dass niemand Ersparnisse hat, um eine weitere Krise durchzustehen.»

Für Amazon schuften bis zum Kollaps

Fragen der wirtschaftlichen Ungleichheit und sozialen Absicherung stellen sich gerade in einer Stadt wie Seattle. Nominell ist sie eine der reichsten Städte der Welt, hier haben Weltkonzerne wie Microsoft, Boeing, Starbucks und Amazon ihre Hauptquartiere. Allein für Amazon arbeiten hier 50 000 meist hoch bezahlte Menschen, Programmiererinnen, Manager – und ein paar LageristInnen wie Harris. «Schau, noch eine phallische Manifestation von Jeff Bezos’ Ego», bemerkt Harris mit Blick auf eines der vielen Hochhäuser, die in den letzten Jahren hochgezogen wurden, um neu zuziehendes Amazon-Management in Luxuswohnungen zu beherbergen. Das Vermögen des Amazon-Gründers Bezos hat in diesem Jahr die 200-Milliarden-Dollar-Marke überschritten. «Gleichzeitig haben wir in unserer kleinen Stadt über 11 000 Obdachlose», sagt Harris, als der Spaziergang an einem der vielen Zeltlager vorbeiführt, die ebenso schlagartig aus dem Boden schiessen wie die Luxustower.

Dem privaten Reichtum steht öffentliche Armut gegenüber. Harris zählt auf: «Unsere Schulen zerfallen, der öffentliche Verkehr ist eine Katastrophe, die Strassen sind voller Schlaglöcher, es gibt keinen sozialen Wohnungsbau.» Washington State, dessen grösste Stadt Seattle ist, kennt keine Einkommenssteuer, weder für Firmen noch Einzelpersonen (dafür eine hohe Mehrwertsteuer). Von Bezos’ Milliardenvermögen tröpfelt nichts nach unten. Bis jetzt. Bereits 2018 entschied die Stadtregierung, besonders vermögende Einzelpersonen lokal zu besteuern – doch unter dem Druck von Amazon machte sie wenige Wochen später einen Rückzieher. Im Jahr darauf finanzierte Amazon mit über 1,5 Millionen Dollar KandidatInnen für den Stadtrat. «Die versuchen, die ganze Stadt zu kaufen», enerviert sich Harris. Doch der Plan ging nach hinten los. Viele empörte Menschen demonstrierten wochenlang immer wieder gegen den Konzern. Dieses Jahr verfügte der Stadtrat eine Steuer auf Konzerne mit mehr als 20 Millionen Dollar Umsatz. So sollen jährlich 200 Millionen zusammenkommen.

Der nächste Schritt sei jetzt, die Angestellten gewerkschaftlich zu organisieren. Bisher sei ihr das leider noch nicht gelungen; zu verschreckt und zu isoliert seien die ArbeiterInnen. Dabei seien die Bedingungen menschenunwürdig: Harris arbeitet im Moment von vier bis acht Uhr morgens. Im Akkord. Wie viele Objekte sie pro Stunde verpacken müssen, sei komplett willkürlich. Während des Shutdowns habe die Firma die Rate von 250 Objekten pro Stunde auf 400 erhöht. «Als ob wir schneller arbeiten könnten, weil es der Konzern braucht.» Am Ende jeder Schicht liest das Management eine Liste vor, von den schnellsten Angestellten zu den langsamsten. «Ich war schon oft weit unten», sagt Harris. «Eigentlich sollte mir das am Arsch vorbeigehen, aber wenn man so öffentlich gedemütigt wird, wirkt das selbst bei mir.» Das ganze System sei so perfide konstruiert, dass manche bis zum Kollaps arbeiteten. Viele fänden keinen anderen Job, weil sie als MigrantInnen nicht gut Englisch sprechen oder Vorstrafen haben. «Darum haben viele derart Angst, sich zu wehren – bei einem falschen Wort bist du noch am selben Tag deinen Job los.»

Und auch die Folgen der letzten Wirtschaftskrise sind noch nicht ausgestanden. Laut offizieller Lesart hat sich der Arbeitsmarkt zwar längst erholt. Nun aber suchen ÖkonomInnen händeringend nach einer Erklärung, warum die Löhne trotz starken Jobwachstums stagnieren. Dabei wäre die Antwort schnell zu finden: Der ArbeiterInnenbewegung wurde so erfolgreich das Rückgrat gebrochen, dass sich niemand mehr traut, für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Natürlich seien seit der Finanzkrise Millionen von neuen Jobs geschaffen worden, sagt Harris, doch die seien miserabel bezahlt. «Jobs gibts genug», scherzt sie. «Jede von uns hat drei.»

Doch etwas gibt Harris Hoffnung: die Streikwelle der letzten Jahre. Seit den siebziger Jahren gab es in den USA nicht mehr so viele Streiks. Zwischen 2018 und 2019 kam es allein unter LehrerInnen, Unipersonal und SchulbusfahrerInnen in Kalifornien, Arizona, Colorado, Oklahoma, Kentucky, West Virginia, Virginia, Georgia und North Carolina zu Massenstreiks, die teilweise das ganze Schulsystem der betroffenen Staaten monatelang lahmlegten. In fast allen Fällen errang das Schulpersonal signifikante Lohnerhöhungen. «Das Wissen, wie wir gemeinsam für unsere Interessen kämpfen, wurde systematisch zerstört», sagt Harris, «aber wir sind dabei, es wieder zu lernen, uns politisch zu bilden und den Individualismus zu überwinden.»

Das sind auch die Ziele der Mutual-Aid-Bewegung, der Bewegung für gegenseitige Hilfe. Diese Form der Nachbarschaftshilfe mit Wurzeln in anarchistischen Theorien floriert in den USA seit Beginn der Coronakrise. Die linke Starpolitikerin Alexandria Ocasio-Cortez gab dazu bereits im März eine Pressekonferenz. «Wir können die alte Mentalität beibehalten, dass in einer Katastrophe jede für sich kämpft», warf die demokratische Sozialistin in die Runde. «Oder wir bauen eine andere Welt, selbst wenn es nur in unserem Quartier ist oder sogar nur auf unserem Stock.» Daraufhin veröffentlichten Medien von der «New York Times» bis zur «Teen Vogue» Anleitungen, wie man Nachbarschaftshilfe am besten organisiert.

Anleitungen zur Nachbarschaftshilfe

Diese Art von gegenseitiger Wirtschaftshilfe hat in den USA eine lange Tradition – auch weil das soziale Sicherungsnetz schon immer schlecht ausgebaut war. Das berühmteste Beispiel ist wohl das Sozialprogramm der Black Panthers, das Gesundheitsversorgung ebenso umfasste wie Essen für arme Schulkinder. In den siebziger Jahren erhielten täglich 20 000 Kinder ein Frühstück von der radikalen Gruppe. Auch Harris hat mit solchen Hilfen aus der Zivilgesellschaft Erfahrungen sammeln können: Als Amazon zu Beginn der Pandemie keine Masken an die ArbeiterInnen des Lagers ausgab, kamen AktivistInnen der Gruppe Seattle Mutual Aid zusammen, um selbst Masken zu nähen. «Morgens um sieben standen wir Schlange, um ins Lager zu kommen – und da kommen diese Aktivistinnen und drücken uns allen eine Maske in die Hand.»

Wie das Konzept von Mutual Aid in der Praxis funktioniert, erlebt man an einem Mittwochabend im Judkins Park, südlich des Stadtzentrums von Seattle. Hier trifft sich eine lose Gruppe politisch Aktiver, um zu besprechen, was man gegen die Obdachlosigkeit tun kann. Ungefähr dreissig Leute stehen neben dem Spielplatz bei den Grillstellen im Kreis, die meisten sind weiss, einige haben blau gefärbte Haare, alle tragen Maske. Von der Wiese dringen immer wieder die Anweisungen eines Fussballtrainers, der Grundschulkinder coacht, herüber. Nebenan macht eine kleine Gruppe muskelbepackter Männer Liegestütze.

Seattle sei eine sehr sportliche Stadt, merkt Sarah Smith* an, die das heutige Treffen einberufen hat. Sonst gebe es ja derzeit nicht viel zu tun. Es sei denn, man sei politisch aktiv – damit könne man sich gerade in ein Burn-out arbeiten. Die anfänglich wöchentliche Demo für mehr Wohnraum sei bereits auf einen Zweiwochentakt umgestellt worden, um den OrganisatorInnen mehr Zeit zur Erholung zu geben.

Smith eröffnet die Runde: «Wir anerkennen, dass wir hier auf besetztem Land der Squamish und Duwamish stehen.» Im Kreis stellen sich die Anwesenden mit ihren Vornamen vor und sagen, was sie sich von der Bewegung erhoffen. Manche Wünsche sind sehr persönlich. Smith etwa erhofft sich, durch ihr Engagement mehr mit anderen Schwarzen in Kontakt zu kommen. Andere wiederum haben das ganz grosse Programm: Obdachlosigkeit vollständig abschaffen, Klassenbewusstsein in der Bevölkerung steigern, dialektische Gegensätze schärfen. «Schön und gut», mahnt ein Aktivist, «aber zuerst müssen wir einen konkreten Forderungskatalog aufstellen.» Ohne erreichbare Ziele würden viele bald frustriert aufgeben. Obdachlosigkeit abzuschaffen, werde nicht über Nacht gelingen; aber sie könnten zehn Menschen zu Wohnraum verhelfen – etwa indem sie ein Spendenkonto einrichteten, auf das Obdachlose für ihre Kaution zugreifen könnten. Die Diskussion wendet sich konkreten Fragen zu: Wie treibt man Zelte auf? In welchem Camp werden wie viele Decken gebraucht? «Ihr könnt auch mal den Müll im Cal Anderson Park aufräumen!», schnaubt eine junge Frau.

In den Park in Capitol Hill, der das Zentrum der anarchistischen Proteste im Viertel war, traut sich die Polizei noch immer nicht hinein, weil Antifa-AktivistInnen patrouillieren. Im Park geben die AktivistInnen warmes Essen, Kleider und Decken aus. So hat sich ein kleines Camp von Obdachlosen gebildet – hier sind sie bislang sicher davor, ihre Zelte an die städtischen Bulldozer zu verlieren. «Wir sind nicht im Park, um zu chillen», sagt eine Aktivistin. Ihr Begleiter, der sich einen Schlafsack um die Schultern gewickelt hat, erzählt, dass die Stadtverwaltung die Basketballkörbe abmontiert habe. Wer ohne Obdach sei, habe meist nicht viel zu tun; Basketball zu spielen, wäre da eine schöne Abwechslung. Sofort springt die Maschinerie der gegenseitigen Hilfe an: «Am Samstag habe ich ein grosses Auto», sagt eine junge Frau. «Und ich eine Leiter zu Hause», wirft ein Aktivist ein. Eine weitere Person stellt einen Werkzeugkasten zur Verfügung.

Mit welchem Eifer hier konkret geholfen wird, überrascht etwas, wenn man aus dem müden Europa kommt. «In Europa glauben die Menschen noch daran, dass sich ihre Institutionen um sie kümmern», sagt Holly Blue*. «In den USA jedoch haben wir gelernt, dass unsere Institutionen nicht dazu in der Lage sind, eine Krise zu bewältigen und die Bevölkerung zu schützen – selbst wenn sie wollten, was aber offensichtlich nicht der Fall ist.» Die schnell und viel sprechende 26-Jährige trägt ein Outfit, mit dem sie vor dem Bezirksgericht am Pioneer Square ziemlich auffällt. Von Kopf bis Fuss ist sie in Weiss, Blau und Blassrosa gekleidet, die Farben der Trans-Flagge. Ursprünglich aus dem reichen Orange County in Südkalifornien, ist sie wie viele andere nach Seattle gekommen, um als Programmiererin im digitalen Sektor zu arbeiten. «Mit 23 hab ich 100 000 Dollar im Jahr verdient, so bescheuert», sagt sie. «Doch was bringen Programmierer unserer Gesellschaft? Krankenschwestern sollten so viel verdienen!» Ersparnisse aus dieser Zeit erlauben es ihr bis auf Weiteres, sich Vollzeit einem lokalen MieterInnenverband zu verschreiben. «Ich bin Klassenverräterin, ist das nicht toll?»

Kampf den HausbesitzerInnen!

Holly Blue hat als Treffpunkt Pioneer Square vorgeschlagen, weil hier vor Gericht Hausräumungen verhandelt werden. Wer die Miete nicht zahlt oder mit der Hypothek im Verzug ist, wird innert weniger Tage von der Polizei aus der Wohnung geschmissen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Polizei ausgerechnet hier ein Auge zudrückt, was die Anwesenheit von Obdachlosen angeht.

Der ganze Platz ist belegt von grossen Gruppen hauptsächlich schwarzer Obdachloser. Manche von ihnen sind ganz gut beisammen, andere stehen schreiend am Strassenrand oder liegen komatös im Gras. Obdachlosigkeit ist ein Schicksal, das in den nächsten Monaten bis zu vierzig Millionen US-AmerikanerInnen treffen könnte. «Uns droht ein ‹eviction tsunami›», eine Hausräumungswelle nie gekannten Ausmasses, sagt Blue, die Teil des Komitees für einen Mietstreik ist. Im April konnten fast vierzig Prozent aller MieterInnen im Land ihre Miete nicht begleichen. Auch in normalen Zeiten reichen sechs Wochen ohne Einkommen, um aus einer Durchschnitts-US-Amerikanerin eine Obdachlose zu machen. Einzelne Staaten erliessen darum ein Moratorium auf Zwangsräumungen. Anfang September erwirkte die Gesundheitsbehörde CDC ein landesweites Moratorium bis Ende Jahr, doch auch so schieben MieterInnen ihre Schulden einfach vor sich her. «Die ganze Wirtschaft kollabiert, und die Einzigen, die keinen Schaden tragen müssen, sind die Immobilienbesitzer», empört sich Blue. Jetzt, da gerade niemand aus der Wohnung geschmissen werden könne, müssten sie zuschlagen. Selbst wenn nur ein Drittel der BewohnerInnen eines Gebäudes nicht mehr zahlte, würde das für den Besitzer eine empfindliche Einbusse bringen. Ihr Ziel sei es, durch eine Massenbewegung Druck auf den Staat aufzubauen, sodass Mietschulden getilgt werden.

Schon vor Corona haben MieterInnen begonnen, sich mit drastischen Mitteln gegen die BesitzerInnen zu wehren. Wer Probleme mit seinem Vermieter hat, kann sich nun bei Holly Blue und ihren GenossInnen melden. «Dann warnen wir die Vermieter, dass wir ihr Geschäft schädigen, wenn sie nicht auf unsere Forderungen eingehen», sagt Blue und klingt dabei etwas mafiös. Die AktivistInnen recherchieren die Besitzverhältnisse, finden heraus, welche Gebäude welcher Firma gehören, und verteilen vor diesen Häusern und vor den Büros der Firma Flyer, die aktuelle und potenzielle BewohnerInnen über die Missetaten der Besitzergruppen aufklären. Dafür aktivieren sie ein ganzes Netzwerk von Leuten, unter anderem von der Mutual-Aid-Gruppe Seattle Solidarity Network, die schon die Masken für die ArbeiterInnen im Amazon-Lager geliefert hat. «Wir verschicken SMS und treiben fünfzig Leute auf, um vor dem Haus der Besitzer zu demonstrieren», erzählt Blue. Erst kürzlich konnte auf diese Weise ein Immobilienbesitzer, der sich geweigert hatte, Mülltonnen aufzustellen, sodass der angrenzende Parkplatz bald mit Abfall bedeckt war, umgestimmt werden: «Wir haben ihn einfach angerufen und gesagt, was wir planen. Er hat sofort eingelenkt.»

Das Beispiel zeige aber auch, dass solch drastische Massnahmen notwendig sind. Selbst für so etwas wie Mülltonnen braucht es die maximale Konfrontation. In Videos aus dem ganzen Land kann man sehen, wie wütende Gruppen vor Gerichten Menschenketten bilden, um zu verhindern, dass klagende Hausbesitzer das Gericht überhaupt betreten können. «Wenn die Zwangsräumungen kommen», verspricht Blue, «stehe ich mit hundert Genossinnen hier!»

Aktivismus schön und gut, aber wie stehts mit Wählen? Mimi Harris schwärmt für die Democratic Socialists of America, mit über 70 000 Mitgliedern die grösste sozialistische Organisation in den USA seit den dreissiger Jahren. Nur mit einer strammen Organisation könne man im Kapitalismus etwas bewegen. Dazu, so Harris, gehöre auch strategisches Wählen. Trump müsse weg, das sei gerade das einzig Wichtige.

Die meisten AktivistInnen im Judkins Park winken jedoch ab. «Ob mit Trump oder Biden: Wirtschaftlich droht uns dasselbe Ergebnis», findet Holly Blue, «das ändert nichts an unseren Zielen oder unseren Kämpfen.» Die DemokratInnen seien nur der andere Flügel der Bourgeoisie, «auch wenn sie eine Regenbogenflagge aus dem Fenster hängen». Dieser Bourgeoisie stünden sie entgegen, eine bunte Bewegung aus ArbeiterInnen, People of Color und queeren Menschen: «Alle, die wissen, wie scheisse Kapitalismus sein kann.»

* Namen geändert.

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