Indien: Leben im Untergrund, Leben im Exil
Jhumpa Lahiri erzählt die Geschichte zweier ungleicher bengalischer Brüder. Damit gelingt ihr ein präzises und dichtes Entdeckungsdrama.
Manche Zeiten scheinen weiter entfernt als die gezählten Jahre. Die sechziger und siebziger Jahre etwa mögen auf Nachgeborene, die in konsumbefriedete Zonen hineingewachsen sind, wie ein ferner Stern wirken. Wie nähert man sich gerechtigkeitsfanatischen, revolutionsgläubigen AkteurInnen, die aus globalen Studentenrevolten und postkolonialen Kämpfen hervorgegangen sind? Die sich von maoistischen Ideen begeistern liessen und Gewalt als legitimes Mittel betrachteten in Ländern, die sich oft genug im Ausnahmezustand befanden? Und wie ist das heutzutage noch zu vermitteln?
Die Geschichte, die die 1967 in London geborene und in den USA aufgewachsene Jhumpa Lahiri in ihrem breit angelegten Roman «Das Tiefland» erzählt, hat sie von ihrem zeitlebens zwischen den Kulturen wandernden bengalischen Vater erfahren. Sie handelt von einer einst in dessen Nachbarschaft wohnenden Familie in Kalkutta zu einer Zeit, als die Stadt von inneren Unruhen und Aufständen geschüttelt wurde, Flüchtlinge das Bevölkerungsgefüge erschütterten und gerade jüngere Menschen von der dort an die Macht gekommenen Kommunistischen Partei Indiens enttäuscht waren. In diese Zeit werden die ungleichen, aber symbiotisch miteinander verbundenen Brüder Subhash und Udayan Mitra hineingeboren.
Während Vater Mitra mit der Unabhängigkeit Indiens alle politischen Ziele erreicht sieht, empfindet der heranwachsende, gerechtigkeitsliebende und impulsive Udayan die sozialen Verhältnisse als unerträglich. Der etwas ältere, zurückhaltende und ehrgeizige Subhash, zerrissen zwischen tiefer Liebe zu seinem Bruder und der Konkurrenz mit ihm, verlässt seine Heimat, um in den USA sein Studium fortzusetzen. Udayan dagegen schliesst sich den NaxalitInnen, einer maoistischen Strömung, an, die die Revolte der Landbevölkerung anführt, und heiratet gegen den Willen seiner Eltern Gauri.
In Rhode Island erreicht Subhash, der sich dort wie «ein Gast» fühlt, für den sich jederzeit «die Tür willkürlich wieder schliessen» kann, die Nachricht vom gewaltsamen Tod Udayans. Dieses Ereignis wird zum dramatischen Wendepunkt für die Familie.
Narziss und Luftwurzel
Zehn Jahre lang hat die Pulitzerpreisträgerin Lahiri am Roman gearbeitet. Zwar war sie als Kind in Kalkutta gewesen, doch von den politischen Ereignissen habe sie nur verschwommene Vorstellungen gehabt. Wie also einen so fremden Stoff bändigen? Filme, sagt die Autorin, hätten ihr geholfen. Später sei sie nach Kalkutta gereist, um ZeitzeugInnen zu befragen.
Lahiris Präzision offenbart sich im Aufbau der komplizierten, sich über mehr als fünf Jahre erstreckenden Geschichte, die die politischen Ereignisse des Landes ebenso einholen muss wie das Familienschicksal von mindestens drei Generationen. Lahiri hat sich deshalb für eine Art Entdeckungsdrama entschieden, in dem die unterschiedlichen Schuldzusammenhänge der ProtagonistInnen erst nach und nach und in Rückblicken erhellt werden.
Die politische Geschichte Westbengalens und der NaxalitInnen, so wie sie sich ihr nach und nach erschlossen hat, sei zwar konstitutiv, hat Jhumpa Lahiri bekräftigt, dennoch handelt es sich um einen Familienroman, den sie aus der Perspektive der Figuren erzählt und zu denen sie bei aller psychologischen Einfühlung immer Distanz hält. Sinnliche Wahrnehmungen wie die üblen Gerüche Kalkuttas oder das zwischen den Fingern bröselnde Reis beschreibt die Autorin hingegen von nah. Farben spielen eine Rolle und die Natur, das Meer, Tiere, die Wasserhyazinthen oder die Luftwurzeln der Mangroven- und Banyanbäume. Der sich vor seinen Verfolgern vergeblich im Hyazinthenmeer verbergende Udayan ist kein romantischer, aber vielleicht ein politischer Narziss. Subhash dagegen wirkt wie eine der Luftwurzeln, die ausgreifen und anderswo Boden fassen müssen.
Frei und doch bestimmt
Mit Udayans Tod muss sich auch Subhash entscheiden: Soll er nach Indien zurückkehren? Doch seine über den Verlust versteinerten Eltern übersehen ihn auch jetzt, und so heiratet er die ihnen abgelehnte schwangere Schwiegertochter Gauri und holt sie nach Amerika. Die kurz darauf geborene Tochter Bela könnte Trost sein, doch sie wird in dieser Ehe anstössig – Gauri kann die Verantwortung für Udayans letzte Hinterlassenschaft nicht annehmen.
Von welcher Schuld Gauri tatsächlich getrieben wird, enthüllt sich erst zum Schluss. Und obwohl alle ProtagonistInnen frei entschieden haben – Udayan für das Leben im Untergrund, Subhash für das Exil, beide Brüder für Gauri und diese wiederum für ein Leben «in Einsamkeitskernen» –, ist es die am Ende völlig sinnlos erscheinende Politik, die ihr Leben und insbesondere das Belas bestimmt: «Udayan hatte sein Leben für eine irregeleitete Bewegung hergegeben. Die einzige Veränderung, die er bewirkt hatte, war die in ihrem Familienleben.» Udayan gehörte nur zum «Fussvolk». Im Internet finden sich keine Spuren mehr von ihm.
Jhumpa Lahiri: Das Tiefland. Deutsch von Gertraude Krüger. Rowohlt Verlag. Hamburg 2014. 521 Seiten. 24 Franken