Textilbranche: Louis Vuitton schweigt

Nr. 51 –

Auch in der Bekleidungsbranche wird massiv überproduziert. Die Detailhändler entledigen sich der unverkauften Ware mit verschiedenen Methoden. Darüber sprechen sie aber nur ungern.

Das Wetter machte dem Kleiderhandel einen fetten Strich durch die Rechnung. Auf den miesen Sommer folgte ein viel zu warmer Herbst, nach den luftigen Sommerkleidchen stauen sich nun die dicken Wintermäntel in den Geschäften. «Die Überhänge in der Bekleidungsbranche dürften selten so gross gewesen sein wie diese Saison», sagt Adrian Wyss, Geschäftsführer der Swiss Retail Federation, dem Branchenverband des Detailhandels. Und selbst wenn das Wetter mitspiele, «demodiere» die Ware heutzutage rasch. Insbesondere seit sich über das Internet fast alles Beliebige irgendwo auf der Welt beschaffen lässt, stehen die Kleiderhändler vermehrt unter Zugzwang. Sie lassen das Kollektionenkarussell immer schneller drehen, um die Kundinnen und Kunden in ihre Läden zu locken.

Was passiert also mit all den Kleidern, den Jacken, Hemden, Pullis und Hosen, die an der Stange hängen bleiben, die nicht verkauft, aber dennoch aus dem Sortiment genommen werden? Wandern sie in den Müll, wie jene mutwillig zerstörten Kleidungsstücke, die eine Studentin vor fünf Jahren in den Containern einer H&M-Filiale in New York entdeckte?

Wer heute bei H&M nachfragt, erhält umgehend Antwort: «Gerne bestätige ich Ihnen, dass bei H&M alle Artikel im Shop verkauft werden.» Ähnlich werden auch Anfragen bei anderen Detailhändlern beantwortet. Von Coop und Migros, über Globus, Transa bis hin zu den Unica-Fair-Trade-Läden ist der Tenor: Restposten? Solche gibt es bei uns so gut wie keine.

Vom Ausverkauf in den Outlet

Das Verfahren ist bei allen ähnlich: Zunächst werden die Preise zum Saisonende im Ausverkauf herabgesetzt. Wobei Insider sich erzählen, dass manche Ware auch extra auf den Ausverkauf hin produziert werde. Bei einer in der Bekleidungsbranche üblichen Marge von 100 bis 200 Prozent wird bei einer Reduktion von 50 Prozent immerhin noch der Einstandspreis eingenommen. Der Wert der Ware sinkt jedoch rasch. «Nach drei bis vier Jahren ist die Ware buchhalterisch abgeschrieben und hat keinen Wert mehr», sagt ein Filialleiter einer Sportartikelhandelskette, der ungenannt bleiben möchte. «Es kann also sein, dass wir zum Beispiel eine Jacke, die ursprünglich 400 Franken kostete, ein paar Jahre später noch für 30 Franken verkaufen.» Was auch dann noch zurückbleibe, werde an Kinderheime in der Region abgegeben.

Viele der grösseren Detailhandelsketten verfügen zudem über eigene Outlet-Stores. Was nach dem Ausverkauf noch an der Stange hängt, wird dorthin verschoben. Dort bleibe die Ware, bis alles verkauft sei, ist zum Beispiel von der Migros zu erfahren.

Einige Warenhäuser wie etwa Manor geben Ladenhüter an die Caritas ab. Diese ungebrauchten Kleider und Schuhe aus Lagerbeständen oder Überproduktionen machten aber nur ein bis zwei Prozent des gesamten Kleideraufkommens der Kleiderzentrale der Caritas Schweiz aus, sagt Pressesprecher Stefan Gribi. Caritas erhält zur grossen Mehrheit bereits getragene Kleidung.

Nur in seltenen Fällen geht die unverkaufte Kleidung zurück an den Lieferanten. «Die Hersteller produzieren heute meist nur noch auf Bestellung, weshalb sie allfällige Restposten auch nicht mehr zurücknehmen», erklärt der Filialleiter des Sportgeschäfts. Früher seien regelmässig Händler aus Polen und Tschechien im Zentrallager vorbeigekommen und hätten die Ware gleich palettenweise gekauft. «Heute machen wir das nicht mehr, da wir nicht wissen, was mit der Ware genau geschieht.»

Keine Obdachlose im Chanel-Kostüm

Diese Restantenhändler verkaufen die Restposten meist ins Ausland weiter – bei Tom Tailor Mode jedoch nur in Regionen, wo die Tom Tailor Group selbst nicht aktiv ist. Auch Coop arbeitet mit Restpostenhändlern, will zu diesen aber keine Auskunft geben.

Restantenhändler wie die deutsche Captiva GmbH können grosse, industrialisierte Betriebe führen, die ganze Kollektionen aufkaufen, Etiketten raustrennen, neue einnähen und die Ware nach Lateinamerika verschiffen. Ein Restantenhändler ist aber auch jener Mann, der mit einem kleinen Lieferwagen die Boutiquen rund um die Zürcher Bahnhofstrasse abklappert und jeweils noch einen Franken pro Kleidungsstück bietet. «Er muss eine sehr gute Marge haben», vermutet Jeroen van Rooijen. Der Stil-Kolumnist der «NZZ am Sonntag» und Teilhaber eines Herrenausstatters in Bahnhofstrassennähe kennt sich aus in der Branche – auch im Luxussegment: «Luxusmarken wie Louis Vuitton oder Hermès machen nie einen Ausverkauf. Es wäre Gift für die Marke, ihre Stücke im offiziellen Verkauf zu heruntergesetzten Preisen zu verkaufen.» Was tut also Louis Vuitton mit seinen Restposten? Die Pressesprecherin teilt der WOZ mit, dass sie «diese Art von Informationen» nicht kommunizieren dürfe. Meist gehe die Ware zurück ins Zentrallager, wo sie zu fünfzig Prozent des ursprünglichen Preises an MitarbeiterInnen verkauft würde, sagt van Rooijen, «so können sich die Mitarbeitenden ausnahmsweise auch mal etwas leisten». Exklusive Marken spenden auch nicht an Hilfsorganisationen. Man möchte schliesslich nicht, dass ein unverkauftes Chanel-Kostüm von einer Obdachlosen getragen wird – selbst wenn es aus der Kollektion vor drei Jahren stammt.

Die Beteuerungen der Detaillisten, dass sämtliche Ware verkauft würde, scheint wenig glaubhaft. «Die Bekleidungsbranche arbeitet mit einem doppelten bis dreifachen Überangebot», sagt Jeroen van Rooijen. «Sie ist längst kein Bedarfsmarkt mehr, sondern folgt vielmehr einem frei erfundenen Bedürfnis.»

* Wunsch von 
Alex Macartney: «Was geschieht mit all den 
Kleidern in den Läden, 
die nicht verkauft 
werden?»

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