Flüchtlingskrise: Wer ist denn hier grausam?

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Solidaritätsgruppen, Grüne und der Schweizerische Friedensrat haben am Dienstag in einem offenen Brief an den Bundesrat die Aufnahme von 100 000 syrischen Flüchtlingen gefordert. Angesicht der Millionen, die bereits aus dem Bürgerkriegsland geflohen seien, sei es ein Skandal, dass in Europa und der Schweiz bislang nur sehr wenige Menschen aufgenommen wurden.

Gut, dass die Diskussion um die erbärmliche Aufnahmebereitschaft Europas neu entfacht worden ist. Nachdem in den Neujahrstagen die Frachtschiffe Ezadeen und Blue Sky M mit zusammen weit über tausend syrischen Flüchtlingen an Bord vor der Küste Italiens aufgetaucht waren, musste man befürchten, dass wieder nur über die bösen Schlepper gesprochen wird.

Einen «neuen Grad an Grausamkeit» zeichne diese aus, liess die europäische Grenzschutzagentur Frontex verlauten. Die «Schleuserbanden» würden immer skrupelloser agieren und die Flüchtlinge nun sogar in «Geisterschiffe» pferchen. Frontex – an die auch die Schweiz einen Beitrag leistet – schaffte es mit dieser Deutung auf so manche Titelseite.

Dabei waren von den rund 3400 Flüchtlingen, die laut dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR 2014 im Mittelmeer ertranken, die meisten mit kleinen Booten unterwegs. Mit Frachtschiffen scheint die Überfahrt ganz entgegen der Darstellung von Frontex sicherer geworden zu sein, allerdings sind die Überfahrtsgebühren auch höher. Nur: Die Grenzschutzbehörde hatte mit dieser neuen Form der Überfahrt nicht gerechnet. Sie war davon ausgegangen, dass über die Weihnachtszeit die «illegale Migration stark zurückgehen oder gar ganz stoppen» werde.

Klar, die Schlepper machen ihr Geschäft nicht aus Nächstenliebe. Aber sie werden von Frontex auch zu manchem gezwungen. So können sie die Flüchtlinge gar nicht in einen sicheren Hafen begleiten, wenn sie langjährige Haftstrafen vermeiden wollen. Grausam ist in Tat und Wahrheit die Fokussierung Europas auf «den Kampf gegen Menschenschmuggel», weil damit die Grenzen immer dichter gemacht werden und die Reisebedingungen der Flüchtlinge zunehmend unsicherer und gefährlicher werden.

Dabei ist es kein Zufall, dass nun auch im Winter Menschen aus Syrien die Überfahrt nach Europa wagen. Denn die Situation in den Hauptaufnahmeländern hat sich in den letzten Wochen zugespitzt:

  • Jordanien, wo inzwischen rund 600 000 syrische Flüchtlinge leben (bei einer Bevölkerungszahl von rund 7,5 Millionen), hatte Anfang Oktober 2014 seine Grenzen gegenüber Syrien geschlossen. Hunderte von Flüchtlingen strandeten im Niemandsland und konnten erst Mitte Dezember einreisen. Immer mehr SyrerInnen werden wieder des Landes verwiesen.
  • Im Libanon haben seit kurzem mittellose Flüchtlinge praktisch keine Chance mehr zum Grenzübertritt. Das Land (mit einer Bevölkerungszahl von 6 Millionen) hat bislang 1,1 Millionen syrische Flüchtlinge registriert und geht von einer weiteren halben Million aus, die nicht registriert sind.
  • Auch in der Türkei stösst die Aufnahmebereitschaft an ihre Grenzen. 220 000 Flüchtlinge werden in Lagern an der Grenze versorgt, während rund 1,5 Millionen sich irgendwo im Land durchschlagen, allein in Istanbul geschätzte 350 000. Ganze Familien leben in einem Raum, halten sich mit Billigjobs über Wasser oder betteln. Viele Flüchtlingskinder können keine Schule besuchen.

Es brauche nun endlich «sichere Wege für die syrischen Flüchtlinge, um nach Europa zu kommen», fordert das UNHCR. Die UN-Flüchtlingsorganisation geht davon aus, dass rund zehn Prozent der 3,2 Millionen registrierten Syrienflüchtlinge in den angrenzenden Ländern gefährdet sind und an einen anderen Ort gebracht werden müssten. 320 000 Menschen also, die nun dringend in Europa einen sicheren Platz bräuchten, wo sie ihre Kinder zur Schule schicken könnten, Arbeit hätten, ihr Kriegstrauma behandeln lassen könnten. Die Schweiz ist in dieser grössten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg gefordert. Als reiches Land kann sie als gutes Beispiel vorangehen; sie verfügt über die Mittel, ein grosses Kontingent aus den Nachbarländern Syriens in die Schweiz einzufliegen und menschenwürdig zu beherbergen. Der Bundesrat muss handeln.