Kinder- und Erwachsenenschutz: Viele Vorwürfe gegen eine junge Behörde

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Schon vor dem aktuellen Fall der Kindstötung im Zürcher Weinland standen die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) massiv in der Kritik. Was sind die Hintergründe der Hetzjagd gegen die Behörden? Und wo ist Kritik angebracht?

Nachdem am Neujahrstag die Tötung zweier Kinder im Zürcher Weinland vermeldet worden war, entstand daraus innerhalb weniger Stunden eine politische und mediale Hetzjagd gegen die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb). Dass die genauen und komplexen Umstände der Kindstötung zu diesem Zeitpunkt unklar waren, spielte keine Rolle: Die Kesb stand als Mitschuldige da.

Die Geschichte der Kesb

Die Kesb ist eine junge Behörde. Am 1. Januar 2013 haben etwa 150 professionelle Fachstellen rund 1400 Vormundschaftsbehörden in den Gemeinden abgelöst, wo meist LaiInnen für die Fälle zuständig waren. Diese Systemänderung – nach hundert Jahren – war das Ergebnis eines jahrzehntelangen politischen Prozesses. 2008 beschloss das nationale Parlament die Systemänderung praktisch widerstandslos und parteiübergreifend. Man war sich einig, dass eine Professionalisierung der Strukturen nötig war.

Die Kesb ist seither für Entscheide im Bereich des Kinder- und Erwachsenenschutzes zuständig. Das Aufgabenspektrum ist weit gefasst, oft geht es um sensible und komplexe persönliche Bereiche: Kindesmissbrauch und -vernachlässigung, das Besuchsrecht bei Scheidungen, Anordnen eines fürsorgerischen Freiheitsentzugs oder eine Beistandschaft für demenzkranke Menschen. Hat die Kesb die notwendigen Abklärungen getroffen, fällt ein mindestens dreiköpfiges Gremium aus Sozialarbeiterinnen, Juristen, Medizinerinnen und Psychologen oder auch Vermögensverwalterinnen den Massnahmenentscheid. Unter dem alten Regime wurden Ende 2012 – aktuellere Zahlen liegen nicht vor – schweizweit über 120 000 Massnahmen ausgesprochen, davon betrafen etwa 80 000 den Erwachsenenschutz und etwas mehr als 40 000 den Kinderschutz.

Für den Systemwechsel waren die Kantone zuständig, und nicht überall ging er reibungslos vonstatten. «In den städtischen Regionen lief es in der Regel einfacher als in den ländlichen Gebieten», sagt Karin Anderer, Dozentin für Sozialrecht an der Universität Luzern. «In den Städten waren meist schon professionelle Strukturen vorhanden, man konnte auf bestehenden Erfahrungen aufbauen.» Auf dem Land und in den Agglomerationen hingegen habe vieles neu aufgebaut werden müssen, so Anderer.

Lange Wartezeiten

Kurt Affolter, Jurist mit Schwerpunkt Kinder- und Erwachsenenschutz, nennt weitere Probleme: «Es gab in einzelnen ländlichen Gegenden Vormundschaftsbehörden, die wegen des bevorstehenden Systemwechsels ab Mitte 2012 ihren Betrieb mehr oder weniger eingestellt haben. Mit der Folge, dass viele Kesb-Stellen in der Anfangszeit mit einer Lawine hängiger Verfahren konfrontiert waren. Die langen Wartezeiten lösten bei den Betroffenen Unzufriedenheit aus.» Je nach Kanton gebe es zudem grosse Struktur- und Ressourcenunterschiede, die auf politische Entscheide zurückzuführen sind. «Im Kanton Bern verfügt die Kesb über unterstützende sozialjuristische Dienste. In anderen Kantonen fehlen sie, was dazu führen kann, dass aus Zeit- und Ressourcenmangel auf Begründungen, Erwägungen und Analysen im Hinblick auf angeordnete Massnahmen verzichtet wird. Das löst verständlicherweise Unmut und ein hohes Konfliktpotenzial aus», so Affolter. Ausserdem trage im Kanton Bern der Kanton die Massnahmekosten, soweit sie nicht von den Betroffenen bezahlt werden können. In manchen Kantonen tragen die Gemeinden alle Kosten alleine ohne einen Lastenausgleich.

Yvonne Gilli, Hausärztin und grüne Nationalrätin aus Wil SG, hat beruflich immer wieder mit der Kesb zu tun. Sie sagt: «Natürlich gibt es Schwierigkeiten, so ein umfassender Systemwechsel dauert Jahre.» Für jene Stimmen, die nun einen Wechsel zum alten System fordern, hat Gilli trotzdem nichts übrig. «Ich habe in meiner Praxis erlebt, dass früher im Fall von wiederholten Kindesmisshandlungen einfach nichts passiert ist. Der Vater war ein guter Bekannter des Gemeindepräsidenten, der für die Entscheide der Vormundschaftsbehörde zuständig war. Sie kannten sich vom Turnverein.» Das sei heute nicht mehr möglich. Schliesslich dürfe nicht vergessen werden, dass unter dem Regime der Laienbehörden auch wegen der fehlenden Kontrollen gravierendes Unrecht geschehen sei, wie beim Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute, das «Zigeunern» mit Schweizer Bürgerrechten zwischen 1926 und 1972 ihre Kinder wegnahm, oder bei den Verdingkindern.

Kampagne gegen die Kesb

Dass die Kesb als junge Behörde, die ein hundertjähriges System abgelöst hat, in die Kritik gerät, ist nachvollziehbar und ebenso richtig wie wichtig, damit sie sich weiterentwickeln kann. «Es müssen beispielsweise mehr Zeit und Ressourcen in die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure im Feld – Kesb, Beistandschaften, soziale Dienste, Gemeindevertreter und Betroffene – fliessen», sagt Kurt Affolter. «Doch selbst wenn es gelingt, die kritisierten Punkte und erwähnten Probleme in den Griff zu bekommen, lässt sich ein Fall wie die aktuelle Kindstötung nicht ausschliessen», stellt Yvonne Gilli klar. Wichtig sei nun die seriöse Aufarbeitung des Falls, um die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.

Es gibt allerdings Kreise, die an einer seriösen Aufarbeitung und einer fundierten Kritik an der Kesb kein Interesse haben. Sie wollen politisches Kapital aus der Sache schlagen. Bereits im letzten Herbst setzte eine systematische Hetzkampagne gegen die Kesb ein, die nun einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Die Kampagne wird einerseits von Betroffenen medienwirksam befeuert, die sich von der Kesb ungerecht behandelt fühlen. Andererseits poltert die SVP gegen die Behörde, was nicht verwunderlich ist, da die Partei beschlossen hat, die Sozialpolitik zum Wahlkampfthema zu machen. Dazu wütet im Netz ein unkontrollierbarer Cybermob.

Die Kesb sei zu teuer, es sei ein ausufernder Beamtenapparat entstanden, der gesunde Menschenverstand zähle nicht mehr, lauten die Vorwürfe. Von Willkür und einer Entmachtung der Gemeinden ist die Rede. Haltbar ist praktisch nichts davon. Genaue Zahlen und Daten zu den Kosten stehen noch nicht zur Verfügung, und dass eine Neuorganisation Kosten verursacht, liegt in der Natur der Sache. Ebenso wenig lässt sich bis jetzt beziffern, ob die Zahl der angeordneten Massnahmen im neuen System zugenommen hat – erste vorliegende Zahlen aus dem Kanton Bern deuten darauf hin, dass es weniger sind.

Trotzdem bleiben die Vorwürfe haften – nicht ohne Folgen: «Ich empfinde es als belastend und auch als Frechheit, dass ich aufgrund meines Berufs im sozialpolitischen Umfeld mit Begriffen wie ‹Geldmacherei› oder ‹faules Beamtentum› verunglimpft werde», sagt Karin Anderer, die eine zunehmende Ignoranz gegenüber fachlichen Meinungen feststellt. Auch die Basler SP-Nationalrätin und Sozialarbeiterin Silvia Schenker, die für die Kesb Abklärungen vornimmt, belastet die aktuelle Situation: «Vertrauen ist die Basis einer guten Zusammenarbeit in unserem beruflichen Umfeld. Wenn nun der Kesb gegenüber dauernd Misstrauen geschürt wird, schadet das jenen, die eigentlich Unterstützung brauchen.»